Aus Erfahrung, dass es im Leben nicht reicht

Michael Lindner-Jung leitet die ökumenische Bahnhofsmission. Bild: Günther Purlein

Eigentlich war sie nicht allzu hungrig. Sie hatte ja erst vor zwei Stunden gegessen. Doch sie wollte die süßen Stückchen haben. Fast übermächtig war der Drang. „Alle drei!“, sagte Sabine T. an der Theke der Bahnhofsmission. Schnell setzte sie sich mit ihrer „Beute“ an den Tisch. Und begann langsam, eines der Stückchen zu essen. Nur irgendetwas haben. Irgendetwas besitzen. „Ein solches Verhalten ist typisch für mehrere unserer Besucher“, erklärt Michael Lindner-Jung, Leiter der ökumenischen Bahnhofsmission.

„Viele unserer Klienten werden immer schwieriger, anspruchsvoller. Manche ohne Rücksicht auf andere“: Von dieser Erfahrung berichten inzwischen viele Bahnhofsmissionen quer durch Deutschland. Lindner-Jung kann dies auch für seine Würzburg Einrichtung bestätigen. Doch er und sein Team bleiben nicht bei der Bestandsaufnahme stehen. Das vergangene Jahr war geprägt vom Nachdenken darüber, warum sich immer mehr Besucherinnen und Besucher der Bahnhofsmission scheinbar sonderbar verhalten. Etwa, weil sie, wie Sabine T., nehmen, was immer sie bekommen können. Egal, ob sie das, was gerade zu kriegen ist, brauchen. Auch kommt es immer häufiger zu kleineren oder größeren Aggressionsausbrüchen.

„Dahinter stehen oft massive Verlust- und Ohnmachtserfahrungen“, erklärt Michael Lindner-Jung. Viele der Menschen, die in die Bahnhofsmission kommen, wurden niemals darin gefördert, ihre Talente zu entfalten. Sie hatten seit langem oder noch nie beruflichen Erfolg. Machten immer wieder schlimme Erfahrungen mit ihren Mitmenschen. Mussten mit schweren Krankheiten, Trennungen, Brüchen und Todesfällen zurechtkommen. Und wer einmal in die soziale Abwärtsspirale gerät, hat es zunehmend schwerer, wieder herauszukommen.

Aus den Erfahrungen der vergangenen Monate entstand das Jahresmotto der Würzburger Bahnhofsmission anlässlich ihres 120-jähren Bestehens für 2019: „Zuversicht geben.“ Angesichts zermürbender Ohnmachtsgefühle und Anfällen von Hoffnungslosigkeit, die bis zu suizidalen Gedanken führen können, benötigen die Besucher der Bahnhofsmission bei der Begleitung durch die Haupt- und Ehrenamtlichen Zuversicht, einen Anhaltspunkt, dass Leben sich lohnt, dringender denn je. Eine Plakat-Kampagne soll ab dem Frühjahr auf das Jubiläumsmotto aufmerksam machen. „Und auch den Mitarbeitenden soll die Möglichkeit geboten werden, sich verstärkt mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und weiter zu qualifizieren“, kündigt der Leiter der Bahnhofsmission an.

Sabine T. ist eine von vielen hundert Frauen und Männern, die 2018 vom Team der Bahnhofsmission begleitet wurden. Über 45.000 Mal suchten Menschen in Not die Einrichtung am Hauptbahnhof im vergangenen Jahr auf. „Im Fünf-Jahres-Vergleich bedeutet dies eine Steigerung von 16 Prozent“, so Lindner-Jung. Manche Besucher wollen sich einfach nur für einen Moment in der Bahnhofsmission aufhalten, Tee trinken, etwas essen oder in der Zeitung blättern. Ein großer Teil wünscht aber ebenso ein Gespräch mit uns, eine Beratung oder eine Weitervermittlung. Lindner-Jung: „Der Gesprächsbedarf hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, auch bei Beratungs- und Krisengesprächen.“

Auch Sabine T. kam kürzlich ganz aufgelöst an. Und war unendlich dankbar, dass sie in der Bahnhofsmission ein offenes Ohr fand. „Sie sind einfach in meine Wohnung gegangen“, erzählte sie unter Tränen. Die 55-Jährige ist eine sogenannte „Messie“. Seit Jahren sammelt sie die unterschiedlichsten Dinge. Nichts kann sie wegwerfen. Das fiel irgendwann dem Vermieter auf. Der rief das Gesundheitsamt, das eine Entrümpelung veranlasste. Dass fremde Menschen sich einfach Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffen konnten, dass sie wegwerfen konnten, was sie selbst niemals weggeworfen hätte, das war für Sabine T. eine einzige Katastrophe.

Menschen wie Sabine T. haben laut Lindner-Jung oft nur noch die Bahnhofsmission als Anlaufstelle. Kontakt zu Familienangehörigen gibt es nur selten, meist nicht. Solche Besucher fühlen sich mit ihrer Situation allein. Mit anderen sozialen Einrichtungen machten die psychisch meist gravierend belasteten Personen nicht immer gute Erfahrungen. Überall sind „Spielregeln“ zu befolgen. Spielregeln, die sie nicht einhalten können. Das zieht Rügen, Verbote oder Sanktionen nach sich.

Das Team der Bahnhofsmission versucht, die Besucher in ihrer „Besonderheit“ auszuhalten, ihnen einen Raum zu geben. Aus diesem Grund durfte sich Sabine T. auch mit den drei süßen Stückchen an den Tisch setzen. Selbst unflätige Kommentare werden nicht sofort sanktioniert. „Denn Sanktionen verstärken die wiederkehrende Erfahrung, nicht zu genügen, nicht gewollt zu sein,“, meint Lindner-Jung. Und bei vielen Besuchern hat sich die Überzeugung verdichtet: „Die ganze Welt ist gegen mich.“ In der Bahnhofsmission sollen selbst Gäste mit sehr fordernden Verhaltensweisen erleben, dass sie geachtet und wertgeschätzt werden: „Das ist die einzige Chance, weiterhin mit ihnen am Ball zu bleiben und zu arbeiten.“

Obwohl manche Klientel einiges abverlangt, sind viele Menschen aus der Region bereit, auch ehrenamtlich in der Bahnhofsmission mitzuhelfen. „Im Augenblick stehen fünf Vorstellungsgespräche mit Bewerbern an, die sich für eine freiwillige Mitarbeit interessieren“, sagt Lindner-Jung. Mehr als 30 Volunteers sorgen derzeit gemeinsam mit den Hauptamtlichen für ein entsprechendes Hilfeangebot. Teilweise machen sie das schon seit vielen Jahren. Im vergangenen Jahr leisteten die Ehrenamtlichen mehr als 8.000 freiwillige Stunden. Dass sind 1.000 Stunden mehr als noch vor zwei Jahren.

Lindner-Jung

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