Aus Hilfeempfängern werden Helfer

Bahnhofsmission Würzburg startet bundesweit einmaliges Ehrenamtsprojekt

Sandra Hirsch baut in der Bahnhofsmission ein interkulturelles Ehrenamtsteam auf. Bild: Günther Purlein

Würzburg. Ein geflüchteter Mensch ist darauf angewiesen, dass er in seiner neuen Heimat Hilfe erhält. So baten in den letzten Jahren auch hunderte Flüchtlinge in der Würzburger Bahnhofsmission um Unterstützung. Viele von ihnen haben inzwischen Fuß gefasst. Sie, die einst Hilfe erhielten, sollen nun in die Arbeit der ökumenischen Einrichtung eingebunden werden. Am 1. November startete das deutschlandweit einmalige Projekt unter Leitung von Sonderpädagogin Sandra Hirsch.

Die von der Deutschen Bahnstiftung geförderte Initiative ist deshalb so außergewöhnlich, weil sich Flüchtlinge bisher noch kaum irgendwo freiwillig engagieren. „Wir möchten insgesamt fünf Geflüchtete als Ehrenamtliche gewinnen“, berichtet Sandra Hirsch. Eine Frau aus Bosnien wird vermutlich das erste Mitglied des neuen, interkulturellen Teams werden. Sie floh bereits vor längerer Zeit aus ihrer Heimat. Nachdem sie in mehreren deutschen Städten gelebt hat, ließ sie sich schließlich mit ihrer Familie in Würzburg nieder. Die Idee, ihre Erfahrungen in ein interkulturelles Team einzubringen, gefällt ihr ausgesprochen gut.

Sandra Hirsch sucht derzeit in Würzburg nach Geflüchteten, die mindestens 21 Jahre alt sind, relativ gut Deutsch sprechen und sich seelisch stabilisiert haben. Sechs Stunden pro Woche sollen sich die „Neuen“ einbringen. Eine Bereicherung versprechen die Freiwilligen mit Migrationshintergrund vor allem wegen der steigenden Zahl ausländischer Besucher zu werden. „Menschen mit Migrationshintergrund prägen unseren Arbeitsalltag“, bestätigt Michael Lindner-Jung, der die Einrichtung der Würzburger Christophorus-Gesellschaft leitet.

Aufs Jahresende hochgerechnet, wird die Bahnhofsmission heuer voraussichtlich über 13.000 Kontakte zu nicht-deutschen Gästen haben. 2011 gab es erst rund 5.600 solcher Kontakte. Lindner-Jung: „Die Zahlen haben sich also innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt.“

Das neue Projekt passt gut zur Bahnhofsmission, weil die dort tätigen Mitarbeiter seit jeher nach der Devise „Hilfe auf Augenhöhe“ handeln. Egal, wie bedürftig ein Mensch aufgrund seiner materiellen Not, seiner psychischen Problematik oder einer Sucht erscheint – er wird nie als reines „Hilfsobjekt“ angesehen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich von jedem Besucher etwas lernen lässt. Zumal von Gästen, die aus anderen Kulturen kommen, eine andere Religion leben, andere Rollenbilder und andere Arten und Weisen haben, Kontakt aufzunehmen.

„Man gibt sich zum Beispiel nicht überall zur Begrüßung die Hand“, veranschaulicht Lindner-Jung. Sensibilität ist vor allem dann vonnöten, wenn muslimische Frauen um Hilfe bitten. Mitarbeiter der Bahnhofsmission können diesen Gästen zum Beispiel nicht einfach einen Gutschein für einen Friseurbesuch im Don Bosco-Berufsbildungswerk mitgeben, da dort nur ein gemeinsamer Raum für Männer und Frauen zum Haareschneiden zur Verfügung steht. Die Frauen müssten also vor Männern ihren Schleier abnehmen. Was viele nicht tun würden.

Das Team der Bahnhofsmission möchte mehr über jene Menschen erfahren, die in letzten Jahren nach Würzburg geflohen sind. „Darum organisierten wir zum Beispiel einen Besuch in einer Moschee“, so Lindner-Jung. Die Flüchtlinge, die sich in der Bahnhofsmission engagieren wollen, werden im Gegenzug das soziale Netz in Würzburg kennen lernen. „Also die Wärmestube, die Kurzzeitübernachtung oder die Kulturtafel“, schildert Sandra Hirsch. Dass es ein so dichtes Netz gibt, mehr noch, dass dieses Netz nötig ist, fand die Frau aus Bosnien erstaunlich. Bisher hatte sie geglaubt, dass im reichen Deutschland niemand wirklich arm ist.

Das neue Projekt ist nicht zuletzt deshalb sehr spannend, weil nicht wenige Gäste der Bahnhofsmission die Offenheit Flüchtlingen gegenüber skeptisch sehen. Sie selbst leben in Armut und befürchten, in Zukunft noch weniger Unterstützung zu erhalten. Vor allem mit Blick auf die Wohnungsnot löst der Zuzug von Migranten bei armen Menschen Ängste aus.

Das kann Ressentiments schüren. Umso wichtiger ist es für das Team der Bahnhofsmission, dass die Besucher der ökumenischen Einrichtung Flüchtlinge als Helfer und eben nicht nur als Hilfeempfänger erleben. Geplant sind außerdem Begegnungsabende, bei denen die „Neuen“ sich und ihr Herkunftsland vorstellen, von ihrer Kultur, ihrer Religion und nicht zuletzt davon erzählen, warum sie ihre Heimat verlassen mussten.

Günther Purlein

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