Bei Eiseskälte draußen schlafen

In der Kurzzeitübernachtung sind Wohnungslose vor Schnee und Kälte sicher

Die Christophorus-Gesellschaft sorgt in Würzburg dafür, dass Menschen ohne Wohnung nicht auf der Parkbank übernachten müssen. Foto: Günther Purlein

Würzburg. Über einem T-Shirt, einem dünnen roten und einem dicken grünen Pullover hat Dietmar Lohrmann drei Jacken gezogen. Mit diesen sechs Schichten lässt es sich auch bei Minustemperaturen draußen aushalten. Lohrmann, der jeden Monat für eine Woche nach Würzburg kommt, wo er in der Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft schläft, hat schon lange keine eigene Wohnung mehr. Im Januar werden es acht Jahre, dass er auf der Straße lebt.

Nach Würzburg kommt er gern, sagt der 42-Jährige: „Die Kurzzeitübernachtung ist hier sehr sauber.“ Das sei in anderen Städten oft nicht so. Ist es irgendwo gar zu unwirtlich, zieht es Lohrmann vor, draußen „Platte“ zu machen. Selbst eisige Temperaturen schrecken ihn nicht ab: „Ich habe schon bei minus zwölf Grad draußen geschlafen.“ Mit zwei dünnen Schlafsäcken überstand er die Nacht.

Dietmar Lohrmann ist einer von derzeit im Durchschnitt neun Personen, die nächtlich das Angebot der Kurzzeitübernachtung für Männer in Anspruch nehmen. Eine Woche kann Lohrmann am Stück in der Einrichtung gegenüber vom Hauptbahnhof schlafen. „In dieser Zeit haben wir täglich zu ihm Kontakt“, sagt Michael Thiergärtner, der die Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose der Christophorus-Gesellschaft leitet. Neben einem Bett und einem Frühstück erhalten die Männer morgens ihren Tagessatz ausbezahlt. Wer Hilfe benötigt, bekommt im Beratungsgespräch Wege aus der Wohnungslosigkeit aufgezeigt.

„Wir vermitteln zum Beispiel in das Johann-Weber-Haus, in unser Betreutes Wohnen, auf den Simonshof oder auch zur Stadt Würzburg“, zählt Thiergärtner auf. Dietmar Lohrmann kennt diese Angebote. Sie kommen für ihn jedoch augenblicklich nicht in Frage. Zwar sehnt er sich nach „normaleren“ Verhältnissen – zumindest nach einem kleinen Zimmer ganz für sich alleine. Allerdings möchte er nicht um jeden Preis Hilfe annehmen.

Sich ganz in Würzburg niederzulassen, kann sich der gebürtige Schwabe momentan nicht vorstellen. Die Stadt ist ihm zu klein: „Wenn, dann möchte ich in ein Ballungszentrum gehen.“ Auch erscheint es ihm nach all den Jahren auf der Straße im Moment noch undenkbar, zunächst eine Maßnahme in einer Einrichtung zu durchlaufen, bevor er eine Wohnung bekommt. Das jedoch ist oft eine Voraussetzung, denn wer jahrelang keine eigene Wohnung mehr gehabt hat, muss sich an Haushaltsführung und vieles andere erst wieder gewöhnen. Das dauert.

Dietmar Lohrmann ist für Michael Thiergärtner insofern ein typischer Wohnungsloser, da er, wie die meisten Männer, die auf der Straße leben, eine ganze Reihe von Schicksalsschlägen hinter sich hat. „Ich wurde mit zehn Jahren in eine Pflegefamilie aufgenommen“, erzählt er. Als 16-Jähriger kam er in ein Heim, wo er bis zur Volljährigkeit lebte. Einen Beruf zu erlernen, war Lohrmann nicht möglich gewesen. Er versuchte, sich mit Jobs über Wasser zu halten. Mit 19 Jahren landete er erstmals auf der Straße.

Damals konnte er sich wieder fangen. Er fand sogar eine Frau, mit der er sich gut verstand. Die beiden zogen zusammen, nach wenigen Jahren heiratete das Paar. Allzu lange funktionierte die Ehe jedoch nicht: „Nach fünf Jahren ließen wir uns scheiden.“ Danach verlor Dietmar Lohrmann noch mehr Halt. Im Januar 2009 landete er endgültig auf der Straße.

Was er hinter sich hat, sieht man Dietmar Lohrmann nicht an. Der 42-Jährige wirkt nicht verbittert, nicht deprimiert. Kommt er einmal ins Erzählen, beschreibt er eindrücklich, an welchen Plätzen er sich schon alles aufgehalten hat. Er nennt Personen mit Namen, mit denen er vor mehr als 20 Jahren zu tun hatte. Plastisch entstehen vor dem Zuhörer Szenen, bemerkenswerte Begebenheiten, bizarre Situationen.

Lohrmann lebt in seiner eigenen Welt. Realität und Fiktion mischen sich. Dass er anders „tickt“, macht es so schwer, für ihn eine adäquate Hilfemaßnahme zu finden. Denn Angebote für Wohnungslose, die seelisch beeinträchtigt sind, gibt es noch zu wenig. Auch in Würzburg fehlt eine entsprechende Einrichtung.

Für Michael Thiergärtner ist es wichtig, Männern wie Dietmar Lohrmann zu signalisieren, dass sie bei der Christophorus-Gesellschaft jederzeit einen Ansprechpartner finden. Mag sein, dass Lohrmann in den nächsten Jahren seine Ansicht ändert. Dass er dann doch versuchen möchte, in Würzburg Fuß zu fassen. Weil es zu anstrengend geworden ist, die ganze Zeit draußen zu leben. Selbst im Winter. Bei eisiger Kälte.

Günther Purlein

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