„Der Arme braucht mehr als ein Stück Brot“

Seit zwei Monaten steht Nadia Fiedler an der Spitze der Christophorus-Gesellschaft

In schwierigen Zeiten übernahm Nadia Fiedler die Leitung der Christophorus-Gesellschaft. Foto: Stephan Hohnerlein

Die Corona-Pandemie wird sich in vielerlei Hinsicht negativ auswirken. Nicht nur ökonomisch. „Ich mache mir große Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft“, sagt Nadia Fiedler. Schon jetzt zeichnet sich ab, so die neue Geschäftsführerin der Würzburger Christophorus-Gesellschaft, dass die Ungleichheit wächst. Engagement für Menschen in prekären Lebensverhältnissen wird deshalb immer wichtiger.

Pandemiebedingt gab es für Fiedler gleich zum Start ihrer Amtszeit jede Menge Arbeit. Vor allem die Situation von Menschen ohne festen Wohnsitz in der Region Würzburg trieb die Juristin in den letzten Wochen um. „Obdachlose sind aufgrund der Pandemie mehr denn je Kälte und Regen ausgesetzt, das zermürbt“, sagt sie. Die Bahnhofsmission und die Wärmestube, beides Einrichtungen der Christophorus-Gesellschaft, mussten ihre Angebote wegen des Infektionsschutzes stark reduzieren. Aus diesem Grund brachte das Team der Christophorus-Gesellschaft in Kooperation mit der Stadt das neue Projekt „Wärmehalle“ auf den Weg. Doch das alleine, so Fiedler, reicht nicht.

Nadia Fiedler, bis Oktober letzten Jahres stellvertretende Geschäftsführerin der ökumenischen Christophorus-Gesellschaft, übernahm den Staffelstab am 18. November von Günther Purlein, der die Organisation seit ihrer Gründung 2000 leitete. Noch nie seit dem Startschuss vor gut 20 Jahren gab es für die kirchliche Institution so große Herausforderungen zu bewältigen. Sozialer, aber nicht zuletzt finanzieller Art. Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit kostet. „Doch nun sorgt die Pandemie sowohl bei Kommunen als auch bei der Kirche für knappe Kassen“, sagt Fiedler. An der Armenfürsorge, appelliert sie, darf dennoch nicht gerüttelt wird.

Die 51-Jährige, die über langjährige Erfahrungen im Sozialrecht verfügt, kennt die Christophorus-Gesellschaft seit dem Jahr 2012. Damals begann Nadia Fiedler sich freiwillig in der gGmbH zu engagieren: „Drei Jahre lang beriet ich ehrenamtlich überschuldete Gefangene in der Würzburger Justizvollzugsanstalt.“ Über dieses Engagement kam sie zu ihrem hauptamtlichen Job: Seit 2015 ist Nadia Fiedler als Schuldnerberaterin bei der Christophorus-Gesellschaft tätig. Zuletzt leitete sie die Schuldner- und Insolvenzberatung. Nach wie vor ist sie neben der Geschäftsführung für das Team der Schuldnerberater verantwortlich.

Das Ziel „Gerechtigkeit“ soll nicht nur auf dem Papier existieren: Dafür setzen sich seit fast 22 Jahren die Bahnhofsmission und die Wärmestube, die Kurzzeitübernachtung und das Johann-Weber-Haus ein. Auch die Schuldner- und Insolvenzberatung sowie zwei Fachberatungsstellen haben sich dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit verschrieben. „Wir sind nicht nur jetzt im Pandemiewinter, wo die Not besonders groß ist, sondern wir sind das ganze Jahr über für Menschen mit den unterschiedlichsten Problemlagen da“, unterstreicht Nadia Fiedler. Viele Frauen und Männer werden über Jahre hinweg begleitet, weil sie mit einem ganzen Bündel an Problemen belastet sind.

Armenfürsorge ist, was weithin verkannt wird, ein sehr komplexes Gebiet. „Es genügt nicht, dem Armen ein Stück Brot zu geben und ihm beruhigend über den Kopf zu tätscheln“, sagt Fiedler. Es braucht hochqualifiziertes Personal, um den Menschen in ihren sozialen und seelischen Nöten gerecht zu werden. „Wir haben es mit Personen zu tun, die massive Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, die psychisch krank oder hoch verschuldet sind“, schildert die neue Geschäftsführerin. Fachkräfte müssten sich in all diesen Feldern auskennen. Wichtig ist nicht zuletzt, sich im Paragrafendickicht zurechtzufinden. Gerade das Sozialrecht ist eine höchst diffizile Materie.

Nadia Fiedler kam als Quereinsteigerin in die Armenfürsorge. Überhaupt ist ihr beruflicher Weg alles andere als typisch für Juristen. Wer Jura studiert, hat normalerweise andere Karriereziele im Sinn. Mancher Studienanfänger sieht sich bereits in der Richterrobe. Oder in einer schnieken Kanzlei. Doch das hat Fiedler nie interessiert. „Ursprünglich wollte ich Entwicklungshelferin werden“, verrät sie. Der Traum, in ein Land des Südens zu gehen und dort zu helfen, kollidierte jedoch mit familiären Plänen. So kam es, dass die dreifache Mutter letztlich doch als Juristin in Deutschland blieb: „Wobei ich mich von Anfang an auf Sozialrecht spezialisiert habe.“

Heute fällt es Nadia Fiedler nicht schwer, ja zu ihrer damaligen Entscheidung zu sagen. Natürlich wäre es spannend gewesen, in ein Land des Südens zu gehen und dort zusammen mit den Menschen vor Ort Projekte zur Verbesserung der Lebensverhältnisse zu realisieren. Doch auch hierzulande ist Hilfe notwendig. Auch wenn die Armut in Deutschland ein anderes Gesicht hat als in einem Land Afrikas oder Lateinamerikas. Doch auch hier leiden Menschen. Und zwar nicht nur unter materieller Not. Es mangelt ihnen auch an sozialen Ressourcen. Was einsam macht.

Stephan Hohnerlein

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