Ein sauberes Bett, eine Dusche

Seit 135 Jahren haben Wohnungslose in Würzburg eine Anlaufstelle zum Übernachten

Michael Thiergärtner leitet die Wohnungslosenhilfe der Christophorus-Gesellschaft. Bild: Günther Purlein

Hinter Robert Jakob Moritz liegt ein dorniger Pfad. Fast 40 Jahre lang lebte der heute 62-Jährige auf der Straße. „Ich wurde mit 21 obdachlos“, erzählt er. Moritz begann durch Deutschland zu tingeln. 1982 kam er nach Würzburg, wo er zum ersten Mal in der „Herberge zur Heimat“ übernachtete. Die seit 135 Jahren existierende Einrichtung, die heute von der Christophorus-Gesellschaft (Caritas und Diakonie) getragen wird, wurde 1885 vom Evangelischen Arbeiterverein (EAV) gegründet.

Das Leben auf der Straße macht einen ständigen Ortswechsel nötig. Zumindest dann, wenn man in Einrichtungen für Obdachlose übernachten möchte. Eine Woche lang erhalten Wohnungslose (früher sog. Nichtsesshafte) in der Würzburger Kurzzeitübernachtung, wie die „Herberge zur Heimat“ heute heißt, ein Bett zum Schlafen. Dann müssen die Männer weiterziehen, wenn Sie keine weitere Hilfe wollen. Im Vergleich zu früher ist das komfortabel, schildert Moritz: „In den meisten Einrichtungen durften wir nur eine Nacht oder übers Wochenende bleiben, man musste deshalb ständig reisen.“ Auch Moritz war dauernd auf Tour.

Jugendsünden seien ihm in die Quere gekommen, berichtet Moritz von den Anfängen seines Straßenlebens: „Drum schmissen mich meine Eltern raus.“ Mit 21 stand er ohne alles da. Anfangs sei es okay gewesen, von Stadt zu Stadt zu ziehen: „Man war ja noch jung.“ Doch das Straßenleben ruinierte allmählich Moritz‘ Gesundheit. 2017 übernachtete er zum letzten Mal in der Männerübernachtung. Mit Hilfe der Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose (ZBS) der Christophorus-Gesellschaft schaffte er den Ausstieg. Heute lebt Moritz in einem eigenen Apartment.

Robert Jakob Moritz weiß, dass er sich im Notfall immer an das Team der Christophorus-Gesellschaft wenden kann. Das ist für ihn wichtig. Denn er hat sonst niemanden. Einmal im Monat erhält er unaufgefordert Besuch von einem ZBS-Mitarbeiter. Dass es heute so viel Unterstützung gibt, findet Moritz klasse. Was Anfang der 80er Jahre angeboten wurde und was heute angeboten wird, sei „ein Unterschied wie Tag und Nacht“. Gerade in den letzten Jahren seines Straßenlebens habe ihm die Christophorus-Gesellschaft immer wieder Hilfe offeriert: „Irgendwann habe ich sie angenommen.“ Anders sei es auch nicht mehr gegangen: „Ich bin total kaputt, draußen würde ich es nicht mehr aushalten.“

Bereits seit 1854 finden Obdachlose in „Herbergen zur Heimat“ ein Refugium. Die erste Einrichtung entstand in Bonn. 31 Jahre später wurde die Würzburger Herberge durch den EAV gegründet. „‘Herberge‘ wurde damals als Ort verstanden, wo man aufgenommen wird“, erklärt EAV-Vorsitzender Diakon Andreas Fritze. „Heimat" bezeichnete einen Platz, an dem man angenommen wird und sich zu Hause fühlen kann. „Menschen eine ‚Heimat‘ und ganz praktische Unterstützung zu geben, ist auch heute eine wesentliche Aufgabe von Christen und der Kirchen“, so Fritze. Zumal in Zeiten einer sehr schwierigen Wohnungssituation.

Die „Herbergen“ versuchen, die Armut der Obdachlosen zu mildern, und zwar in materieller und sozialer Hinsicht. Die Lebensform selbst wird dabei nicht bewertet, betont Michael Thiergärtner, der die ZBS und die Kurzzeitübernachtung leitet. Die Mitarbeiter bieten Hilfen an, ohne Druck auszuüben. Vor allem wissen sie, wie schwer es nach Jahren auf der Straße ist, wieder ein geregeltes Leben zu führen und sich gesellschaftlichen Konventionen anzupassen: „Viele, die nach Jahren wieder eine Wohnung haben, fallen erst mal in ein Loch.“

Zumindest dann, wenn eine sinnvolle Aufgabe fehlt. Denn solange die Männer auf der Straße lebten, waren sie ständig beschäftigt. „Man muss herausfinden, in welcher Stadt man wo übernachten kann, unter welchen Voraussetzungen man aufgenommen wird, also, ob man sich zum Beispiel anmelden muss, und ob es mit den Fahrtkosten klappt“, erklärt Thiergärtner. Die Würzburger Übernachtung gilt in der „Szene“ als sehr gut, da um die „Herberge“ herum ein dichtes Hilfenetz gewebt wurde. Thiergärtner: „Jeder, der bei uns übernachtet, kommt am nächsten Tag hoch zu uns in die ZBS, wo der Hartz 4 - Tagessatz ausgezahlt wird und wo wir beraten.“

In der Würzburger Herberge kann man schlafen, essen und sich auch mal Luft machen über etwas Ärgerliches, das während des Tages passiert ist. Jeder Ankömmling erhält ein frisch überzogenes Bett, die Duschen und Toiletten sind stets sauber. Schon diese Selbstverständlichkeit empfinden wohnungslose Menschen als „Komfort“, unterstreicht Thiergärtner: „Schließlich ist Obdachlosigkeit eine der schlimmsten Situationen, die man erleben kann.“ Ein Obdachloser weiß nicht, wo er am nächsten Abend schlafen wird. Mit wem er das Zimmer teilen muss. Was ihn in der nächsten „Herberge“ erwartet. An Freudigem. Oder an Konflikten. Für die meisten Bürger, so Thiergärtner, wäre all dies völlig unvorstellbar.

So mancher Obdachlose wurde durch das Straßenleben zum Trinker, weil er die Strapazen auf Dauer nicht mehr nüchtern aushielt. Umgekehrt kennen viele Männer, die abends an der Türe klingeln, süchtiges Verhalten aus ihrer eigenen Familie. Kaum einer wuchs behütet auf. Viele haben erfahren, was auch Robert Jakob Moritz widerfuhr: Nahe Menschen wandten sich ab. Beziehungen zerbrachen. Vertrauen wurde missbraucht. Und in der Folge schwer erschüttert.

Günther Purlein

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