Ein Stück, das in die Tiefe geht

Klienten der Christophorus-Gesellschaft wirken an Performance „Heimat? Straße!“ mit

Zwei Menschen unterhalten sich am Straßenrand sitzend.
Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt recherchierten für ihre Würzburger Theaterperformance unter anderem in der Wärmestube und der Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft.

24.10.2024

Mit welcher Oberflächlichkeit wir oft über „andere“ sprechen. Über Flüchtlinge. Arme. Obdachlose. Aber wie auch anders. Was wissen wir über diese „anderen“? Im Grunde - fast nichts. Jedenfalls fast nichts Konkretes. Die meisten wollen auch gar nichts Konkreteres wissen. Wollen nicht erfahren, dass das, was sie sich so denken, gar nicht wahr ist. So bleibt die Meinung oberflächlich. Bis man sich irgendwann vielleicht doch einlässt. Dazu lud in Würzburg die Performance "Heimat? Straße!" ein.

Drei Tage lang war das Stück von Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt im Würzburger Hahnenhof zu sehen. Dabei gaben die beiden Schauspieler auch Einblicke in den Entstehungsprozess. Was eindrucksvoll war.

Wie werden sie auf uns reagieren? Werden sie uns akzeptieren? Vielleicht fragen wir was Falsches. Und dann wird einer womöglich richtig pampig. Beleidigend… In „Heimat? Straße!“ stellen sich Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt nicht belehrend über das Publikum, das um sie herum auf Pappkartons am Boden hockt. Ihr Stück, das sie in Würzburg bei Einrichtungen der Christophorus-Gesellschaft weiter recherchierten und anlässlich der Armutswochen der Caritas aufführten, verhehlt nicht: Auch sie hatten anfangs Vorbehalte. Auch sie hatten Ängste. Doch sie ließen sich ein. Sprachen mit Obdachlosen. Und begannen, über die ihnen bis dato fremde Welt zu staunen.

Obdachlos zu sein, bedeutet, Freiheit zu genießen, es bedeutet, tausend Qualen leiden zu müssen, es bedeutet permanentes Arrangement, es bedeutet Sucht, Streit und die Erleichterung darüber, Hilfe zu erfahren. In ihrer Performance zeichnen die beiden Schauspieler auf Basis ihrer Gespräche mit etlichen „Pennern“, Sozialarbeitern und Polizisten ein schillerndes Bild vom „Berbertum“. Da begegnen dem Zuschauer Menschen, deren Schicksal einem schier das Herz zerreißt. Doch keineswegs jeder Obdachlose ist sympathisch. Ist ins Herz zu schließen. Natürlich nicht!

Dass bei dem einen ein Rad locker ist und der andere nur noch als Wrack angesehen werden kann, immer ist der auf Drogen, immer ist der hardcore auf Drogen - auch das ist Lebensrealität. Jeder Obdachlose, banale Weisheit, ist anders. Jeder landete aufgrund höchst individueller Umstände auf der Straße. Wobei es, erkannten die beiden Schauspieler, durchaus Konstanten gibt. Eine schmerzhafte Trennung, über die man einfach nicht hinwegkommt, kann das Vehikel sein, das einen unaufhaltsamen Prozess Richtung Abgrund einleitet. Zur Trennung gesellt sich Sucht. Zur Sucht der Verlust des Jobs. Zum Verlust des Jobs der Verlust der Wohnung.

Man könnte „Obdachlosigkeit“ auch als Sachthema abhandeln. Könnte Daten zusammenklauben. Statistiken bemühen. Fakten präsentieren. Auch Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt lassen Fakten einfließen. Sie erzählen unter dem Motto „Wussten Sie…?“ zum Beispiel davon, dass es Ärzte in Würzburg gibt, die sich ehrenamtlich in der Sprechstunde der Wärmestube engagieren. So etwas zu wissen, ist interessant. Aber es packt nicht. Es löst nicht jenen Gedanken aus, um den es den beiden Schauspielern im Kern geht: Jeder muss erst mal als Mensch gesehen werden. Egal, wie er lebt. Egal, wie er aussieht. Egal, was er denkt.

Wichtig für „normal“ lebende Menschen ist Ansehen, ist eine gefällige Erscheinung, ist ein tadelfreier Ruf. Wer nach dieser konventionellen Devise lebt, fällt es zweifellos schwer, sich in Menschen hineinzuversetzen, die sich um jedes Ansehen gebracht haben. Die sich auf die Straße hocken, manchmal ziemlich schmutzig, vor sich einen Pappbecher und betteln. Die sich am helllichten Tag auf eine Parkbank lümmeln und Bier saufen. Weil man das selbst nie tun würde, ist es so schwer, zu verstehen. Durch die Performance von Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt wird Verständnis definitiv leichter.

Aktuell wächst die Not, immer häufiger kommt es zur Überbelastung sozialer Einrichtungen. Tafelläden haben Aufnahmestopp. Die Wartelisten bei Beratungsstellen werden immer länger. Auch wenn das nicht der Hauptfokus ist, macht die Performance doch auch darauf aufmerksam, dass die Probleme nicht zuletzt politisch bedingt sind. Die Wohnungskrise zum Beispiel ist politisch hausgemacht. Politisches Versagen wiederum bekommen vor allen Dingen Menschen am Rand der Gesellschaft zu spüren. Dass die alles andere als gut auf den Staat zu sprechen sind, auch das arbeiten Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt heraus.

Durch ihre Performance wird klar, dass man ein noch so menschenfreundliches Recht in der Verfassung verankern kann – es nützt nichts, wird dieses Recht nicht von den Bürgern gelebt. Mehr als deutlich wird dies am ersten Artikel des Grundgesetzes, der auf die Unantastbarkeit der Würde des Menschen abhebt. Boris Ben Siegel und Julia Stephanie Schmitt lassen von ihnen interviewte Menschen zu Wort kommen, die unter unglaublich würdelosen Bedingungen hausen. In Wohnungen ohne Heizung. In Wohnungen mit Türen, die nicht abgeschlossen werden können. In absolut schlimmen Bruchbuden. Die fast kein bisschen besser sind als die Platte im Park.

Text & Bild: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft

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