Endlich ist alles leichter
Dank „NOAH“ konnten inzwischen elf Menschen in ihren eigenen vier Wänden ankommen

27.01.2025
In der Ruhe liegt die Kraft, lautet ein altes Sprichwort. Alle, die in ihrem Leben bereits eine schwierige Zeit durchstehen mussten, wissen, dass dieses Sprichwort viel mehr ist als nur ein banaler Ausspruch. Diese Erfahrung macht auch Jan Bläsing immer wieder in seiner täglichen Arbeit. Der Sozialarbeiter von der Christophorus-Gesellschaft unterstützt Menschen, die teilweise jahrzehntelang auf der Straße lebten. Bereits elf Menschen konnte Jan Bläsing mit seinem Team zu einer eigenen Wohnung verhelfen. Zu einem eigenen Mietvertrag. Den eigenen vier Wänden. Und zu einem Ort der Ruhe.
Für Jan Bläsing ist klar: mit dem Unterzeichnen eines Mietvertrages ist es bei weitem nicht getan. Der Leiter des Housing First Projekts „NOAH“ der Christophorus-Gesellschaft begleitet weiter. Bleibt ansprechbar. Für alle Fragen, Bedenken und Herausforderungen, die mit einer eigenen Wohnung kommen. Denn nur so kann es gelingen, dass die hohe Motivation und Veränderungsbereitschaft der Menschen, die sich an NOAH wenden, in die Tat umgesetzt werden kann.
„Housing First“ nennt sich das Konzept hinter dem vor zwei Jahren gestarteten Projekts. Dahinter steckt ein nicht ganz neuer, aber in Deutschland weniger bekannter Gedanke: Menschen, die lange keine eigene Wohnung mehr hatten, sollen möglichst direkt die Möglichkeit zu einem eigenen Mietvertrag, zu einer eigenen Wohnung bekommen. Probleme, die diesem Ziel bisher im Weg standen, werden durch langfristige und individuelle Begleitung nach dem Einzug gelöst.
Einer, der von dem Projekt ganz besonders profitierte, ist Wolfgang A. (Name geändert). „Durch die Punkszene landete er irgendwann auf der Straße“, erzählt Jan Bläsing. Das ist über 30 Jahre her. Am Anfang war das gar nicht so schlimm. Sogar ein bisschen abenteuerlich. Aber mit den Jahren wurde es immer beschwerlicher, unter freiem Himmel zu leben. Irgendwann ertrug Wolfgang A. das Leben auf der Straße nur noch alkoholisiert. Das ursprünglich selbst gewählte Leben in maximaler Freiheit wurde zum Gefängnis und verlangte seinen Tribut.
„Als er zu uns kam, lief er gebeugt auf Krücken. Seinen Trolley mit seinen Habseligkeiten konnte er kaum mehr hinter sich herziehen“, schildert Jan Bläsing. Heute bewegt sich Wolfgang A. ohne Hilfsmittel fort. Dem Alkohol hat er abgeschworen. Durch die Wohnung sei er zur Ruhe gekommen, sagt er: „Ich muss mich nicht mehr betäuben.“
Er, der früher sein ganzes Leben in einem schweren Rucksack durch die Straßen schleppen musste, kann heute hocherhobenen Hauptes durch die Innenstadt schlendern. Wie jeder andere Passant. Ohne die Last des beschwerlichen Lebens auf der Straße auf seinen Schultern. Ohne aufzufallen.
„Das Leben auf der Straße verlangt den Menschen so viel ab.“, sagt Jan Bläsing. Das macht auch die Arbeit bei NOAH anspruchsvoll. Jeder Klient, jede Klientin wird individuell begleitet. Vor dem Einzug müssen Papiere beschafft werden. Die Zahlung der Miete und der Kaution müssen geklärt werden. Der Umzug muss organisiert werden. Die Wohnung muss eingerichtet werden. Doch auch im eigenen Leben muss man sich neu einrichten. Es gilt herauszufinden: wie möchte ich leben, wenn ich nicht mehr nur überleben muss?
Die individuelle Begleitung bei diesen zentralen Fragen ist manchmal nicht einfach, gibt Jan Bläsing zu. Denn manche Probleme können eben nicht durch anpacken gelöst werden. Oft braucht es einfach erstmal Geduld, ein offenes Ohr und vor allem ein „ich bin für dich da“. Das gibt Sicherheit. Macht es möglich, sich mit der eigenen psychischen und körperlichen Gesundheit auseinanderzusetzen. Auch mal Ängste und Sorgen zu zugeben. Endlich sagen zu dürfen: „Es ist toll, dass ich jetzt meine eigene Wohnung habe. Aber ich habe Angst, wie es weitergeht.“
Genau dafür ist NOAH da. Für die langfristige Begleitung, die individuelle Unterstützung und das offene Ohr bei Problemen. Das Team aus drei Sozialarbeitenden und einer Verwaltungskraft geben all ihre fachlichen und professionellen Kompetenzen für die Menschen, die sie begleiten. Doch auch die Menschlichkeit kommt nicht zu kurz.
Dennoch ist das Team von NOAH bei weitem nicht in der Lage, die immense Nachfrage nach „Housing First“ zu decken. Über 200 Menschen fragten seit Projektstart an, ob sie in das Projekt aufgenommen werden könnten. Beinahe täglich gehen neue Anfragen ein. Manchmal können die Hilfesuchenden an andere Angebote verwiesen werden. Doch die Schere zwischen Angebot und Nachfrage klafft laut Jan Bläsing trotz aller Bemühungen weit auseinander: „„Deutschlandweit steigt die Zahl der Wohnungslosen an. Das ist auch in Würzburg so, die Obdachlosenunterkunft platzt aus allen Nähten.“
Eigentlich müssten sich bei diesen Zuständen die Haare sträuben. Überall sind die Systeme am Limit. Es braucht neue Wege, andere Ansätze und mutige Wegbereiter. Für Jan Bläsing bleibt darum neben der täglichen Arbeit mit den Klientinnen und Klienten am wichtigsten: NOAH muss fortgesetzt werden. Die Christophorus-Gesellschaft setzt alles daran, dass es danach weitergeht. Aktuell läuft das Projekt bis Oktober 2026. Der Projektleiter von NOAH ist weiterhin zuversichtlich, bleibt gelassen und weiß: „In der Ruhe liegt die Kraft.“
Text & Bild: Nadia Fiedler, Christophorus Gesellschaft