Für die „Brüder der Landstraße“

Christophorus-Tag erinnert an die vor 130 Jahren gegründete Kurzzeitübernachtung

Seit 130 Jahren ist die vom Evangelischen Arbeiterverein gegründete „Herberger zur Heimat“ laut EAV-Geschäftsführer Diakon Andreas Fritze eine unverzichtbare Sozialeinrichtung in der Stadt Würzburg. Bild: Günther Purlein

Würzburg. Niemals die Türe hinter sich zuziehen können. Immer draußen sein. Bei Regen. Kälte. Hitze. Kein Bett haben. Kein Badezimmer. Wohnungslos zu sein hat nichts Romantisches an sich. „Das Schlimmste ist, keine Sicherheit zu haben“, sagt Michael Thiergärtner, Leiter der vor 130 Jahren gegründeten Kurzzeitübernachtung. Das Jubiläum der seit 2000 von der Christophorus-Gesellschaft getragenen Einrichtung stand im Mittelpunkt des diesjährigen Christophorus-Tags.

In der Kurzzeitübernachtung, wie die vom Evangelischen Arbeiterverein (EAV) gegründete „Herberge zur Heimat“ inzwischen heißt, erhält jeder Ankömmling ein frisch überzogenes Bett. Hier kommen die Wohnungslosen zur Ruhe, tanken auf, holen Atem. „Viele der Männer sind müde und erschöpft“, sagt Thiergärtner.

Es gibt etwas zu essen, Duschen und eine Waschmaschine. Und es gibt, mindestens ebenso wichtig, Menschen, die Interesse an dem haben, was die Wohnungslosen aktuell oder was sie in der Vergangenheit erlebt haben. Viele der Männer sind laut Thiergärtner sehr einsam. Umso mehr schätzen sie es, in der Kurzzeitübernachtung jemanden zum Reden zu haben.

Besorgniserregend ist dem Sozialpädagogen zufolge die wachsende Zahl junger Männer, die an die Tür der „Herberge“ klopfen. Gleichzeitig treffen, was angesichts des demographischen Wandels weniger verwundert, immer mehr Rentner ein. Für das Team bedeutet dies, sich vermehrt auf altersbedingte Beeinträchtigungen einstellen zu müssen. Eine dritte Gruppe, die aktuell größer wird, sind Menschen ohne Sozialleistungsansprüche. Thiergärtner: „Fast jede Nacht geben wir einem Flüchtling ein Dach überm Kopf.“

Sich um Menschen ohne feste Bleibe zu kümmern, sieht die Kirche seit Jahrhunderten als eine ihrer originären Aufgaben an, erläuterte Diakon Andreas Fritze vom Evangelischen Arbeiterverein. So kamen Wanderer im Mittelalter in Klöstern unter. 1854 entstand in Bonn die erste christliche Herberge zur Heimat. Die gleichnamige Würzburger Einrichtung im Inneren Graben wird in historischen Quellen erstmals am 8. Dezember 1885 erwähnt. Fritze: „Mit zunächst 20 Betten bot sie Wanderburschen eine Übernachtungsmöglichkeit.“

Die Nachfrage war vor mehr als 100 Jahren gewaltig. So wurden 1903 insgesamt 15.000 Übernachtungen registriert. Die Nazis versuchten das soziale Engagement des EAV bis 1945 zu verhindern. Drei Jahre nach Kriegsende wurde der Verein neu gegründet. Aus der Satzung des Jahres 1953 geht hervor, dass die Hilfe für Nichtsesshafte wiederum als eine der wesentlichen Aufgaben des Vereins angesehen wurde.

Als „Brüder der Landstraße“ wurden die Wohnungslosen in den 1960er Jahren bezeichnet. Sie erhielten Mahlzeiten, die vom EAV-Lehrlingsheim geliefert wurden. Auf Sauberkeit wurde großen Wert gelegt, zitierte Fritze aus alten Veröffentlichungen: „Man durchsuchte alle Gäste nach Ungeziefer.“ Insgesamt 7.000 „Brüder der Landstraße“ übernachteten im Jahr 1965 in der Herberge zur Heimat.

Bis vor 15 Jahren war der Evangelische Arbeiterverein Eigentümer des Hauses im Inneren Graben. Danach übernahm die ökumenische Christophorus-Gesellschaft die Trägerschaft. Für die Männer, die heute wohnungslos sind, brachte der Trägerwechsel große Vorteile mit sich. Die Männer sind heute in ein enges Hilfenetzwerk eingebunden, das vom Landkreis und von der Stadt Würzburg finanziell gefördert wird.

Neben dem Team der Kurzzeitübernachtung kümmern sich auch die Mitarbeiter der Zentralen Beratungsstelle um die Wohnungslosen. Es gibt, so dies gewollt wird, die Möglichkeit, ins Betreute Wohnen (in eigener Wohnung!) aufgenommen zu werden. Bei höherem Hilfebedarf des Betroffenen steht auch die stationäre Einrichtung, das Johann-Weber-Haus, zur Verfügung. Was die Perspektive beinhaltet, endlich wieder gesellschaftlich Fuß zu fassen.

Günther Purlein

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