„Ich ess keine Vanillekipferl mehr“
Für benachteiligte Menschen wie Andi T. ist Weihnachten ein bedrückendes Fest

20.12.2024
Jetzt möchte man wieder Tannenduft haben, Plätzchen und Lebkuchen, Kerzenschein und Lametta, und man möchte andere durch schöne Geschenke beglücken. Ist das alles nicht möglich, weil man arm ist oder allein, kann das ungemein bitter sein. „Für mich ist Weihnachten in diesem Jahr sehr schlecht, denn ich darf meine Kinder nicht sehen“, bekennt zum Beispiel Andi T. (Name geändert) aus der sozialtherapeutischen Einrichtung Johann-Weber-Haus der Würzburger Christophorus-Gesellschaft.
Andi T. leidet an chronischem Geldmangel. Gerade mal wenige hundert Euro hat er im Monat für Essen, Hygieneartikel, Bekleidung und sonstigen Bedarf zur Verfügung. Doch er schafft es, damit klarzukommen. In den letzten Wochen hätte er sich sogar gern noch viel stärker eingeschränkt, wäre es möglich gewesen, seine Kinder zu sehen und ihnen etwas zu Weihnachten zu schenken. Doch die Familie ist zersplittert. Wie das schon bei seiner Herkunftsfamilie war: „Ich bin ein Scheidungskind.“ Acht Jahre war Andi T. alt, als sich die Eltern trennen. Im Grunde war das ein Glück gewesen: „Von meiner Mutter bin ich nur geschlagen worden, mein Alltag bestand aus Schlägen.“
Am Geld haperte es in der frühen Kindheit auch, aber das war nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste waren die Schläge. Die gab es nicht nur von der Mutter: „Sondern auch von ihren Freunden.“ Wie erlöst war der kleine Junge dann, als er nach der Scheidung zu seinem Papa und der Oma kam. Dass die Großmutter 2006 drei Tage vor Weihnachten starb, überschattet seitdem das Fest. Weihnachten mit der Oma war immer wunderschön gewesen: „Seit sie gestorben ist, ess ich keine Vanillekipferl mehr, niemand kann so gute Vanillekipferl backen, wie sie das getan hat.“ Unter seiner Mithilfe. Als Kind.
Andi T. hat gelernt, sich mit dem zu begnügen, was er hat. Er klagt nicht darüber, dass er seit langem in Armut lebt. Sich nie was leisten kann. Er klagt nicht über sein Schicksal. Nur an Weihnachten kommt halt immer alles hoch. All das, was er in den vergangenen 43 Jahren erlebt hat. Schon mit 18 rutschte er in die Drogensucht ab. Wurde er abhängig von Heroin: „Im Moment werde ich substituiert.“ Eine Lehre als Zimmermann brach er kurz vor der Prüfung ab. Alles war damals zu viel gewesen: „Da warf ich die Flinte ins Korn.“ Seit Oktober lebt Andi T. im Johann-Weber-Haus. Seither arbeitet er an einem Neuanfang. Beruflich. Vor allem aber auch, was seine Familie betrifft.
Einsamkeit ist immer schlimm, doch gerade, was an Weihnachten fehlt, ist ein Gegenüber. Ist zumindest ein einziger Mensch, mit dem man seine Weihnachtsgefühle teilen kann. Mit dem man sich über Weihnachten freuen kann. Mit dem zusammen man in Glitzerschmuck und Tannenduft schwelgt. Das Johann-Weber-Haus richtet für die 28 Männer, die hier sozialtherapiert werden, selbstverständlich eine Weihnachtsfeier aus. Doch viele können sich nicht dazu überwinden, zu kommen. Wären sie doch viel lieber mit anderen Menschen zusammen. Mit ihren Kindern. Der einstigen Partnerin. „Auch ich werde in meinem Zimmer bleiben und mir Weihnachtsfilme ansehen“, sagt Andi T.
Die Hauptsorge des gebürtigen Odenwälders besteht im Moment darin, dass er den Kontakt zu seinen Kindern ganz verlieren könnte. Mit dem zehnjährigen Sohn beginnt es allmählich, schwierig zu werden. Kein Wunder. Andi T. darf nur einmal in der Woche mit ihm telefonieren. Aber mit der Tochter ist es gut. „Was würdest du dir denn zu Weihnachten wünschen?“, hatte Andi T. sie vor kurzem telefonisch gefragt. Er hörte am anderen Ende der Leitung ein leises Schluchzen. Nichts wünscht sie sich. Sie habe doch alles, was sie braucht. Sie habe ein Dach über den Kopf. Und Menschen, die sie liebt. Menschen wie ihr Papa. Von dem sie weiß, dass er sie von ganzem Herzen gernhat.
Es ist Andi T. nahegegangen, dass sie das so sagte. Wie gern hätte er sie jetzt bei sich gehabt. Wie gerne in die Arme geschlossen. Wie gern würde er jetzt losziehen, und ihr und ihrem Bruder ein kleines Weihnachtsgeschenk kaufen. Auch wenn er dann noch weniger Lebensmittel für sich selbst beim nächsten Einkauf in den Wagen packen kann. Aber er darf die Tochter an Weihnachten nicht sehen. Heuer noch nicht. So heißt es vom Jugendamt. Aber vielleicht im nächsten Jahr.
Andi T. ist nun schon jenseits der vierzig. Er hat viel Schlimmes erlebt. Und ist im Moment doch voller Hoffnung und voller Willen, ein neues Leben zu beginnen. „Ab Januar werde ich über das Jugendamt begleiteten Umgang mit meinen Kindern haben“, sagt Andi T. Auch beruflich möchte er wieder auf die Beine kommen. Im Augenblick ist er noch gesundheitlich eingeschränkt. Aber das wird schon wieder werden. Alles wird wieder werden, denkt er sich. Aber jetzt muss erst mal Weihnachten vorbeigehen. Irgendwie. „Kevin - Allein zu Haus“, wird er sich an Heiligabend ansehen. Und „Das letzte Einhorn“.
Text & Bild: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft