„Ich flüchte jeden Tag hierher“

Die ökumenische Bahnhofsmission zählt immer mehr Stammgäste

Michael Lindner-Jung, Leiter der ökumenischen Bahnhofsmission, mit einem Kreuz aus Holunderholz, das ihm ein Besucher der Bahnhofsmission kürzlich als Dankeschön geschenkt hat. Bild: Günther Purlein

Er war ratlos, was nun zu tun sei. Lange hatte Matthias M. mit dem Mann in der Bank diskutiert. Ob man ihm nicht wenigstens ein paar Euro geben könnte. Der Mann in der Bank war unerbittlich geblieben: „Es tut mir außerordentlich leid…“ Matthias M. hatte nur noch ein paar Cent in der Tasche. „Ich dachte nach, dann beschloss ich, zum ersten Mal in meinem Leben zur Bahnhofsmission zu gehen“, erzählt der 49-Jährige. Das war 2008. Heute zählt Matthias M. zu den Stammgästen der ökumenischen Einrichtung.

Der Mann in der Bank hatte Matthias M.s Bitte um Geld mit einem Achselzucken quittiert. Vorschrift ist Vorschrift. Da sei nichts zu machen. In der Bahnhofsmission erlebte und erlebt der Landkreisbürger das genaue Gegenteil. Hier gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihn ein. Hier wird er nicht abgespeist. Hier darf er sein. So, wie er ist. Und wie er ist – das ist schon ein bisschen speziell. „Ich war bereits als Kind ein absoluter Einzelgänger“, schildert der Mann, der Technischer Zeichner gelernt hat, seit langem aber schon von Arbeitslosengeld 2 lebt.

Am Anfang haben die Menschen mitunter Schwellenangst. Bahnhofsmission – was einen da wohl erwartet? Ist die Angst überwunden, tauchen die Besucher in eine Welt ein, die sie als ihnen wohlgesonnen erleben. Wer einmal hier war, kommt in vielen Fällen wieder, sagt Michael Lindner-Jung, der die Einrichtung der Würzburger Christophorus-Gesellschaft leitet: „Die Zahl der Stammgäste steigt.“ Wie viele Stammgäste es genau gibt, lässt sich nicht ermitteln. Denn niemand wird namentlich registriert.

So richtig pudelwohl fühlt er sich nur in seiner Wohnung, sagt Matthias M.: „Und zwar, wenn die Türe verschlossen ist.“ Doch man kann nicht immer in seinem Zimmer hocken. Meist ist es der Hunger, der den Hartz IV-Empfänger vor die Türe treibt. Weil Matthias M. noch Schulden abzutragen hat und diese Schulden auch begleichen möchte, hat er weniger als den Regelsatz von 432 Euro pro Monat zur Verfügung. Geld ist also stets knapp: „Ich komme in die Bahnhofsmission, weil es hier so gut wie immer etwas zu essen gibt.“ Aber nicht nur das Essen schätzt er. Sondern auch die Gespräche. Die Bahnhofsmission, sagt der Arbeitslose, ist ihm nach seiner Wohnung der liebste Ort.

Die Bahnhofsmission bietet Teilhabe, wie es neudeutsch heißt. „Ich komme her, weil hier immer nette Frauen sind, mit denen ich reden kann“, erzählt Thea L. Nirgends sonst findet die 64-Jährige Gesprächspartnerinnen. Denn sie kann nirgendwo hingehen, wo es etwas kostet: „Mein Mann und ich leben von 1.000 Euro im Monat.“ Seit zwei Jahren suchen die beiden verzweifelt eine Wohnung in Würzburg. Im Moment leben sie bei ihrem Sohn und ihrem behinderten Enkel. Vier Menschen sind in zwei Zimmern zusammengepfercht: „Es ist die Hölle, wir haben kein eigenes Leben mehr, ich halte das nicht mehr aus.“ In die Bahnhofsmission „flüchtet“ sie fast täglich, sagt Thea L.

Viele jener Menschen, die, wie Matthias M. und Thea L., ziemlich oft in die Bahnhofsmission kommen, teilweise täglich, mindestens aber wöchentlich, werden in der Statistik als Besucher mit „besonderen sozialen Schwierigkeiten“ erfasst. „80 Prozent aller Hilfekontakte fallen darunter“, sagt Lindner-Jung. Diese Menschen haben eine ganze Latte an sozialen Problemen. Sie sind, wie Matthias M. und Thea L., arm. Sie leben in extrem prekären Verhältnissen, in Verfügungswohnungen oder auf der Straße. Sie haben Gewalt, Missbrauch oder Misshandlung erlebt. Oder erleben sie noch immer. Und sie verhalten sich aufgrund ihrer Biografie „anders“ bis „herausfordernd“.

Thea L. hat eine fest umrissene Vorstellung, wie es für sie weitergehen könnte: „Ich will unbedingt eine Wohnung, das ist mein allergrößter Wunsch.“ Dort will sie mit ihrem Mann in Ruhe und Frieden leben. Matthias M. hat kein größeres Ziel mehr. Klar, er lebt nicht gerade nobel. Durch seine Macken eckt er an. Aber er kennt das Leben nicht anders. Schon seine Eltern waren phasenweise bitterarm. Bereits in der Schule wurde er, weil er so anders war, ausgegrenzt. Matthias M. hat sich arrangiert. Immerhin hat er eine Wohnung. Immerhin gibt es die Bahnhofsmission. Das reicht ihm.

Dann wieder gibt es Besucher, die sich völlig nutzlos fühlen, keinen Halt, keine Perspektive und keine Hoffnung auf Besserung mehr haben. Hier existiert kein Plan, wie es anders, wie es schöner werden könnte. Auch diese Menschen, die weder den Wunsch und wahrscheinlich auch nicht die psychische Möglichkeit haben, sich und ihr Leben zu ändern, dürfen in der Bahnhofsmission sein, sagt Lindner-Jung. „Manche dieser Besucher leben eingesponnen in einer Welt, die nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Sie sehen, was niemand sonst sieht.“ Auch hier bleibt das Team der Bahnhofsmission nah dran: „Wir versuchen, gerade auch in diese Welten Brücken zu bauen.“

Zurück