Mit MS in der Zelle

Chronisch kranke Inhaftierte sind in der JVA Würzburg keine Seltenheit

Jochen Radau von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft berät auch direkt in der JVA. Bild: Brigitte Neugebauer

PRESSEMITTEILUNG JVA Würzburg-Schweinfurt im Einvernehmen mit SkF Würzburg und Christophorus GmbH


Kurz, bevor Leo P. ins Gefängnis musste, erhielt er eine beunruhigende Diagnose: MS. Der Arzt hatte keine Zeit, ihn gründlich aufzuklären. In seiner Gefängniszelle wälzte der 23-Jährige schreckliche Gedanken. Würde er in wenigen Jahren im Rollstuhl sitzen? Was könnte er selbst tun, um den Krankheitsverlauf zu beeinflussen. „Er hatte Angst, weil er nichts Genaues über MS wusste“, sagt Jochen Radau von der Würzburger Beratungsstelle der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG).

Die Begegnung mit Leo P. liegt nun schon eine Weile zurück, allerdings ist sie Radau noch in lebhafter Erinnerung: „Und zwar deshalb, weil diese Art von Beratung bei uns eigentlich gar nicht mehr vorkommt.“ Menschen, denen der Arzt eröffnet hat, dass sie an MS leiden, informieren sich heutzutage sofort im Internet oder in Büchern, was MS bedeutet, welche Verläufe die Krankheit nehmen kann und welche Medikamente es gibt. Nur dann, wenn spezielle, persönliche Fragen auftauchen oder weiterhin Unsicherheiten bestehen, lässt man sich „live“ beraten.

„Das Infopool zu MS ist inzwischen riesig, doch Gefangene haben hierzu keinen Zugang“, erklärt Radau. Das sieht der Berater kritisch. Denn gerade mit so schweren Erkrankungen wie MS allein gelassen zu sein, belaste ungemein. Auch Leo P. litt unter starken Ängsten, weil er sich ausmalte, dass er vielleicht in wenigen Jahren ein Krüppel sein würde.

Anlässlich der „Aktionstage Gefängnis“, die heuer erstmals vom 21. bis 30. September unter dem Motto „Hingesehen! Gefängnis, Gesundheit und Gesellschaft“ organisiert werden, wünscht sich Radau bessere Zugänge zu Gesundheitsinformationen in der JVA. Natürlich sei es nicht möglich, Gefangene einfach im Internet surfen zu lassen. „Doch man könnte die Seiten von Organisationen wie der DMSG über einen Laptop offline zur Verfügung stellen“, sagt er. Alternativ könnten Gefängnisbüchereien so gut ausgestattet werden, dass Gefangene hier fundierte Informationen zu Erkrankungen wie MS, Epilepsie oder Depressionen finden.

Medien machen laut Radau die „analoge“ Beratung keineswegs überflüssig. Doch es sei nicht sinnvoll, kostbare Beratungszeit damit zu verschwenden, basale, leicht zugängliche Infos zu vermitteln. „In unseren Beratungsgesprächen geht es fast immer um komplexe Probleme“, so der MS-Experte. Häufig kommen Menschen mit sozialrechtlichen Fragen zu ihm. Etwa, weil die Krankenkasse eine Leistung nicht genehmigt hat. Manchmal werden auch Schwierigkeiten in der Partnerschaft, die mit der Erkrankung zusammenhängen, im Beratungsgespräch erörtert.

Wichtig ist Radau bei seinen Beratungen immer, die Menschen zu aktivieren, selbst etwas zu tun. Denn nichts sei schlimmer als das Gefühl, ausgeliefert und zum Abwarten verdammt zu sein. Auch Leo P. gab er über die konkreten Infos hinaus Tipps, was der junge Mann aus eigener Initiative machen könnte: „Ich erklärte ihm zum Beispiel, dass eine gute Versorgung mit Vitamin D die Schübe bei MS reduzieren kann.“ Daraufhin ließ der Gefangene in der Krankenabteilung der JVA seinen Vitamin D-Status bestimmen. Der war extrem niedrig. Leo P. bekam Tabletten. Und hat nun das gute Gefühl, selbst zu handeln und dadurch die Krankheit ein kleines bisschen besser zu kontrollieren.

Hilfreich bei MS ist Radau zufolge auch Sport. Darüber hatte Leo P. in seiner Zelle auch schon nachgedacht. „Aber kann ich mit der Krankheit tatsächlich Sport treiben? Oder verschlimmert sie sich am Ende dadurch?“, fragte er sich. In Freiheit hätte sich Leo P. diese Frage mit wenigen Klicks selbst beantworten können. „Es spricht nichts dagegen, Sport zu treiben, im Gegenteil, Bewegung ist gerade bei MS gut“, erklärte ihm Jochen Radau.

Beruhigend war es für Leo P., zu hören, dass die Krankheit nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen so schlimm verläuft, dass sie im Rollstuhl landen. Allerdings machte der Berater keinen Hehl daraus, dass auch das trotz besserer Medikamente weiterhin vorkommt. „Einmal beriet ich sogar eine an MS erkrankte Inhaftierte, die im Rollstuhl saß“, erzählt er. Bei dieser 58 Jahre alten Frau lag die Diagnose schon lange zurück. In ihrem Fall waren auch keine Aufklärungsgespräche nötig, sie wusste sehr gut über ihre Erkrankung Bescheid. Die Gefangene hatte aber ein ganz anderes Problem: „Sie brauchte dringend Geld.“

Wegen ihrer Erkrankung musste sie viele Briefe schreiben. Das wenige Geld, das sie besaß, reichte nicht aus, um Briefmarken zu kaufen. Weil ihr Mehrbedarf direkt mit ihrer Erkrankung zusammenhing, war die DGMS bereit, der Frau zu helfen. Aus Stiftungsmitteln erhielt die Gefangene einen kleinen Betrag, der sie in die Lage versetzte, ihre Korrespondenzen fortzuführen.

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