Sie wollen ein Netz ausspannen

Schuldnerberatung wirkt in Zukunft noch stärker als bisher in den Sozialraum hinein

Robert Morfeld (rechts) und Andreas Hausknecht von der Christophorus-Gesellschaft gehen mit ihrem Pilotprojekt über die klassische Einzelfallarbeit in der Schuldner- und Insolvenzberatung hinaus. Foto: Christophorus-Gesellschaft

30.09.2022

Er steckt, vertraute Klaus W. beim kirchlichen Seniorencafé der Gemeindereferentin an, tief in Schulden. Zum allerersten Mal. Und er hat keine Ahnung, wie er da rauskommt. Die Theologin hatte eine Idee: „Waren Sie denn schon mal bei der Schuldnerberatung?“ Durch diesen Zufall kam Klaus W. zur Christophorus-Gesellschaft, wo überschuldeten Menschen geholfen wird. In Zukunft soll dies nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben. Dafür will ein soeben gestartetes Pilotprojekt zur Sozialraumorientierung sorgen.

Deutschlandweit sind derzeit mindestens 6,2 Millionen Bürger mit durchschnittlich 30.000 Euro verschuldet. „Bisher halfen wir diesen Menschen durch individuelle Fallarbeit“, erklärt Robert Morfeld von der Schuldner- und Insolvenzberatung der Würzburger Christophorus-Gesellschaft. Doch es genüge nicht mehr, das Einzelschicksal in den Blick zu nehmen. Sind doch von individuellen Schulden viele weitere Menschen mitbetroffen. Und zwar nicht nur Gläubiger. Sondern auch Kinder und Enkelkinder. Der Partner. Freunde. Arbeits- und Vereinskollegen. In der sozialraumorientierten Beratungsarbeit wird dieser Umstand in zweifacher Hinsicht berücksichtigt.

Überschuldete Menschen sollen zum einen möglichst in dem Zirkel, in dem sie sich gewöhnlich bewegen, auf die Einrichtung „Schuldnerberatung“ stoßen. Gelänge dies, könnten die Berater früher als bisher helfen. In der Beratung selbst sollen verstärkt all jene Menschen mitberücksichtigt werden, die von der Überschuldung betroffen sind. Dies sind die Grundideen des neuen Pilotprojekts, das von Andreas Hausknecht angestoßen wurde. Der Sozialpädagoge beschäftigte sich in seiner Bachelorarbeit mit Möglichkeiten, die Schuldner- und Insolvenzberatung sozialraumorientiert zu gestalten.

Nachdem die Preise in den letzten Wochen fantastisch gestiegen sind, gewinnt das Pilotprojekt an Brisanz. Denn vielen Menschen geht es gerade wie Klaus W.: Zum ersten Mal sind sie mit der Problematik „Schulden“ konfrontiert. „Unbeleckt“ stehen sie vor einem riesigen Dilemma: Wo gibt es Hilfe? Durch das Netzwerk, das Robert Morfeld und Andreas Hausknecht in den kommenden Monaten und Jahren aufbauen möchten, soll es sehr niederschwellig gelingen, mit der Schuldnerberatung in Kontakt zu kommen. Etwa über die Kirchengemeinde. Oder Second-Hand-Läden. Über den Energieversorger. Oder Wohnungsbaugesellschaften wie die Würzburger Stadtbau.

Klaus W., der normalerweise einen gesunden Appetit hat, konnte durch die sich anhäufenden Schulden tagelang nicht mehr richtig essen. Er schlief schlecht. Meldete sich nicht mehr bei seinen Bekannten. Und vernachlässigte seine Ehrenämter. Das ist ganz typisch, meint Andreas Hausknecht, denn bei Verschuldung handelt es sich um ein komplexes psychosoziales Problem. Es geht nicht nur ums Geld. Es geht fast immer auch um die seelische und körperliche Gesundheit. Letztlich ist nahezu jeder Lebensbereich betroffen. Aus jedem dieser Lebensbereiche wiederum könnte rein theoretisch Hilfe kommen. Diese Hilfe „anzuzapfen“, schaffen Betroffene jedoch oft nicht allein.

Schulden sind eine haarige Angelegenheit, findet Klaus W. nach wie vor. Nichts wünscht er sich denn auch mehr, als dass die roten Zahlen wieder verschwinden. Allerdings ist er nach drei Beratungsterminen bei Robert Morfeld nicht mehr verzweifelt. Er sieht einen Ausweg. Und er fasste neuen Lebensmut. Ganz beglückt war er, als er von dem Schuldnerberater erfuhr, dass der einen direkten Draht zu seinem Energieversorger hat. Sollte es große Probleme mit der nächsten Nachzahlung geben, hörte er, würde man vermitteln. Klaus W. fühlt sich aufgefangen. Er schläft besser. Kann wieder essen. Trifft Bekannte. Und geht seinen Ehrenämtern nach.

Menschen, die in Schwierigkeiten sind, finden in Stadt und Kreis Würzburg etliche Anlaufstellen. Da ist zum Beispiel die Bahnhofsmission. Oder die Kirchliche Allgemeine Sozialberatung. Mit all diesen etablierten Einrichtungen ist die Schuldnerberatung der Christophorus-Gesellschaft seit vielen Jahren eng vernetzt. Neu ist der Gedanke, mit Akteuren zu kooperieren, die nicht im originären sozialpädagogischen Milieu angesiedelt sind. Wie zum Beispiel Second-Hand-Läden. Doch nur durch solche Kooperationen, so die Erkenntnis hinter dem Projekt, kann der lange Zeitraum, der in vielen Fällen zwischen dem Beginn der Überschuldung und dem Beginn der Beratung liegt, schmelzen.

Dass viel Zeit verlorengeht, weil überschuldete Menschen die Schuldnerberatung nicht kennen oder falsche Vorstellungen von der Beratungsarbeit haben, ist seit Jahr und Tag so. Das Pilotprojekt, das im Augenblick durch eine Masterarbeit an der Würzburger Hochschule vorangetrieben wird, versucht nun, neue Wege in der Kontaktaufnahme zu gehen. Die Sache, geben Robert Morfeld und Andreas Hausknecht zu, ist höchst ambitioniert. Denn aufgrund von Inflation und Energiepreisschock steigt die Nachfrage nach Beratung. Dennoch wollen sich die beiden Zeiträume freischaufeln, um ihre zukunftsweisende Idee Schritt für Schritt umzusetzen.

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