Viele Wünsche und wenig Geld

Navina De vermittelt Teenagern im Jugendarrest finanzielle Alltagskompetenz

Navina De steht vor einem Whiteboard und notiert Begriffe wie Liebe, Freundschaft, Party oder Führerschein. Aspekte, die Jugendlichen wichtig sind.
Rauchen und Partys stehen laut Navina De bei den Jugendlichen hoch im Kurs. Bild: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft

10.11.2023

Auf den ersten Blick scheint Paul nicht schlecht zu verdienen. 1.400 Euro bekommt der ausgebildete Schreiner monatlich netto raus. Das ist mehr, als die Jungs, die sich gerade mit Paul beschäftigen, zur Verfügung haben. Doch zieht man alles ab, was Paul braucht, allen voran die Kosten für die Wohnung, bleibt gar nicht mehr viel übrig: 400 Euro. „Die jungen Leute sind immer ganz erstaunt, dass es so wenig ist“, sagt Navina De.

Fünfmal schon war die Mitarbeiterin der Christophorus-Gesellschaft in der Würzburger Jugendarrestanstalt (JAA), um mit jungen Männern über Geld zu reden. Geld ist ein entscheidender Faktor hinter delinquentem Verhalten. Um an Geld zu kommen, wird geklaut. Eingebrochen. Betrogen. Gedealt. Navina De kennt diese Problematik als Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatung in der JVA. Anfang 2022 ging sie mit einer Kollegin daran, Jugendliche, die für ein paar Tage oder Wochen arrestiert sind, „Finanzielle Alltagskompetenz“ zu vermitteln. Das klingt sperrig. Wobei es in den Präventionskursen völlig locker zugeht.

Am Fallbeispiel des jungen Paul dockt Navina De an die Lebenswelt der Teenager an. Ein Ziel des kompakten, zweistündigen Workshops besteht darin, den Teilnehmern bewusst zu machen, welche Bedürfnisse sie haben. Und welche Bedürfnisse sie befriedigen wollen. Nur, wer die eigenen Bedürfnisse kennt, kann mit ihnen umgehen. Das gilt für immaterielle Bedürfnisse wie die Sehnsucht nach Freundschaft ebenso wie für materielle Bedürfnisse. Im einen wie im anderen Fall bekommt man nicht immer, was man haben möchte. Jedenfalls nicht in vollem Umfang.

„Markenkleidung ist den Jugendlichen ganz wichtig“, sagt Christa Fischer, die sich als Sozialarbeiterin um die Arrestanten kümmert. Mit Schuhen, die schon etwas schäbig aussehen, würde in der Regel keiner der Jungs aus dem Arrest in seiner Clique aufzukreuzen. Viel zu groß wäre die Gefahr, ausgelacht zu werden. „Für Schuhe werden manchmal 280 Euro ausgegeben“, weiß die JAA-Mitarbeiterin von „ihren“ Jungs. Das ist eine Menge. Womit die Bedürfnisse freilich längst nicht gestillt sind. Mindesten dieselbe Summe, meist sogar noch mehr, wird jeden Monat für Zigaretten ausgegeben. Die Disco kostet. Außerdem braucht es Geld für Alkohol und Drogen.

Für die Jugendlichen ist es eindrucksvoll, mal auf einen Blick zu sehen, was sie alles brauchen. Was sie gerne haben wollen. „Wir machen dann hinter den Bedürfnissen Striche“, beschreibt Navina De die Arbeit im Workshop. Viele Jugendliche machen hinter fast jedem Bedürfnis einen Strich. Allmählich dämmert die Erkenntnis: Mit dem, was monatlich zur Verfügung steht, ist all das, was man gerne hätte, nicht zu finanzieren. Oder umgekehrt: Es ist kein Wunder, dass man ständig in großer finanzieller Verlegenheit ist.

Ein Teenager, dessen Gedanken noch nie von solchen Fragen bewegt wurden, erlebt auf diese Weise einen Aha-Effekten. „Wir selbst drängen nichts auf“, sagt Navina De. Vor allem wird nicht moralisiert. Navina De spricht im Schuldenpräventionsworkshop ganz offen über Drogenkonsum. Alles andere würde von den Jugendlichen auch nicht ernst genommen. „Die allermeisten sind wegen Drogen hier“, bestätigt Christa Fischer. Nicht selten wurde bereits mit zwölf der erste Joint geraucht. Wenige Jahre später ist Cannabis-Konsum das normalste der Welt. Dazu gesellen sich Speed und Koks. All das will finanziert sein.

Der jugendgerechte Kompaktkurs zur Schuldenprävention ist in drei Module geteilt. Nachdem sich die Teenager Gedanken über ihre Bedürfnisse gemacht haben, lernen sie am Fallbeispiel von Paul, einen Haushalts- und Budgetplan aufzustellen. Zur Abrundung geht es um Verträge. „Lest das Kleingedruckte!“, appelliert Navina De. Wer das aus Nachlässigkeit nicht tut, unterschreibt Sachen, die er gar nicht haben will. Und die im schlimmsten Fall in Schulden stürzen.

In die Würzburger Jugendarrestanstalt kommen junge Leute aus Unter- und Oberfranken sowie aus Ansbach. Sie sind so unterschiedlich, wie junge Menschen nun mal sind, schildert Christa Fischer: „Wir haben auch Abiturienten und hin und wieder Studenten, die wegen Drogen hier sind.“ Manche Jugendlichen durchlaufen gerade eine Ausbildung. Manche arbeiten. Es gibt jedoch auch viele, die finanziell äußerst prekär leben. Zerbrochene Familien sind eher die Regel denn die Ausnahme. Nicht selten waren die jungen Leute eine Zeitlang im Heim. Oder in einer Pflegefamilie.

Auch die Eltern der Arrestanten leben oft unter schwierigen Umständen. Geld ist ein Dauerthema. Zumindest unterschwellig. Gleichzeitig wird die Konfrontation mit dem chronischen Geldmangel gescheut. „Viele Jugendliche machen die Post schon gar nicht mehr auf“, weiß Christa Fischer durch die Gespräche mit den jungen Leuten. Viele haben längst den Überblick verloren, wo welche Summe noch offen ist.

In der Jugendarrestanstalt ist sehr viel Zeit, nachzudenken. Vor allem erfahren die Teenager hier Neues. Durch den Kurs von Navina De zum Beispiel checken sie, wodurch Kaufentscheidungen getriggert werden: Nämlich durchdrängende Bedürfnisse. Sie werden auf den Gedanken gebracht, dass es möglich ist, Wünsche zurückzustellen. Und noch etwas ganz Wichtiges erfahren sie: Ist das Kind in den Brunnen gefallen und haben sich hohe Schulden aufgetürmt, ist es möglich, sich von der Schuldnerberatung aus der Schuldenfalle heraushelfen zu lassen.

Text: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft

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