Wenn die Straße das Zuhause ist

Seit 20 Jahren begleitet Michael Schramm obdachlose Menschen

Michael Schramm reicht einem Übernachtungsgast Handtuch und Duschgel. Foto: Günther Purlein

Die wenigsten Männer entsprechen der Klischeevorstellung eines Obdachlosen: „Zu uns kommen an jedem Abend höchst unterschiedliche Leute“, sagt Michael Schramm von der Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft. Da gibt es jüngere Männer, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnten und zwangsgeräumt wurden. Andere wurden just an diesem Abend von der Polizei aus der Wohnung verwiesen. Einige Gäste ziehen jedoch tatsächlich seit Jahren von Stadt zu Stadt. Alle Versuche, sesshaft zu werden, scheiterten.

Manche landen zwischendurch im Gefängnis, manche sind länger in der Klinik. Irgendwann tauchen die Männer wieder auf. Nach Wochen. Oder Monaten. „Es gibt Gäste, die ich vom ersten Tag an kenne“, sagt Michael Schramm. Der Sozialpädagoge begann vor genau 20 Jahren in der Kurzzeitübernachtung zu arbeiten. An etwa jedem zweiten Abend öffnet er um 18 Uhr die Türe der Männerübernachtung, die manche noch als „Herberge zur Heimat“ kennen. Zuvor hat Schramm Kaffee gekocht, der in einer Thermoskanne bereitsteht. Nach und nach treffen die Männer ein. Viele wollen erst mal was Heißes trinken. Meist wird danach geduscht. Dann schaut die bunte Truppe gemeinsam fernsehen: „Die Mehrheit entscheidet, was gesehen wird.“ Fast alle lieben Krimis.

Manche wollen auch kurz reden, wollen sich Luft machen, weil sie heute „draußen“ irgendetwas erlebt haben, was sie belastet. Michael Schramm kennt inzwischen die Geschichten vieler Männer. Heinz (Name geändert) zum Beispiel ist ein Gast, den Schramm seit 20 Jahren begleitet. „Er war früher im Handel tätig“, sagt der Sozialarbeiter. Was alles geschah, dass Heinz irgendwann auf der Straße landete, weiß Schramm nicht im Einzelnen. Allerdings kennt er das große Problem von Heinz: „Er hat eine äußerst geringe Frustrationstoleranz.“ Passt ihm irgendetwas nicht oder steht er vor einem Problem, dann schlägt es Heinz in die Flucht. Konflikte zu lösen, hat er nie gelernt.

Die Kurzzeitübernachtung ist für Heinz eine unverzichtbare Institution. Fast jeden Monat taucht er hier auf. Manchmal bleibt er drei Nächte. Manchmal fünf. „Die meisten wissen, wo sie danach hingehen, sie haben sich Routen organisiert“, sagt Schramm. Heinz bewegt sich meist im Viereck Würzburg-Mainz-Kaiserslautern-Worms. Er weiß genau, mit welchen Tickets er besonders günstig weiterkommt. Und er kennt alle Mitarbeiter in allen Notschlafstätten.

Es gibt Phasen, da wünscht sich Heinz, möglichst heute noch aus dem Straßenleben auszusteigen. „Er sehnt sich im Grunde nach einem normalen Leben“, sagt Schramm. Unzählige Male hat Heinz schon probiert, wieder Fuß zu fassen. Doch das hat nicht geklappt. „Das große Problem ist, dass Menschen wie er kein Geld, keine Kontakte und keine Hobbys haben“, erklärt Schramm. Schafft es einer ins Betreute Wohnen, stellt sich ihm nach kurzer Zeit die Frage: „Was mach ich nun hier?“ Jeden Abend läuft die Flimmerkiste. Dazu gibt es Dosenbier. Das Gefühl von Einsamkeit wird immer stärker. An diesem Punkt angelangt, hat Heinz stets von jetzt auf nachher sein Bündel gepackt und ist gegangen.

Manfred (Name geändert) ist anders gestrickt, er will, wie er betont, sein eigener Herr sein. Von niemandem abhängig. Ohne Verpflichtungen. Auch Manfred kennt Michael Schramm schon seit 20 Jahren. Der Endfünfziger gehört zu jenen Menschen, die ihr Straßenleben extrem gut ausgecheckt haben. Manfred hat die soziale Infrastruktur von x Städten im Kopf. Er weiß, wo er übernachten kann. Wo es ihm möglich ist, seine Wäsche zu waschen und zu trocknen. Wo er was zu essen bekommt. Und wie er günstig von A nach B gelangt. „In einer Bude würde mir die Decke auf den Kopf fallen“, sagt er.

So zu leben, ist ihm natürlich unbenommen, meint Schramm, aber es stellt sich die Frage, was passiert, wenn Manfred älter wird. Inzwischen kennt Schramm Obdachlose, die durch das harte Straßenleben gesundheitlich so eingeschränkt sind, dass es für sie einfach unmöglich geworden ist, weiter permanent draußen zu sein. Erst kürzlich wurde ein Mann ins benachbarte Johann-Weber-Haus aufgenommen, weil er kaum noch laufen konnte. „Eigentlich hat er es jetzt viel komfortabler“, sagt Schramm. Erstmals genießt er den Luxus eines eigenen Bettes. Dennoch fiel es ihm sehr schwer, diese Hilfe anzunehmen. Permanent in einem Zimmer zu sein – der Mann war das einfach nicht mehr gewohnt.

Günther Purlein

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