„Wir sehen nackte Not“

Große Nachfrage bei Zentraler Beratungsstelle für Wohnungslose und der KZÜ

Michael Thiergärtner hält zwei Geldscheine in der Hand und möchte diese eine ihm gegenüber sitzende Person, die seitlich hinter der Kamera steht, übergeben.
Michael Thiergärtner muntert einen in große Not geratenen Klienten auf und hilft ihm überbrückungsweise mit ein wenig Geld aus.

14.06.2024

Wer könnte noch den Eindruck erwecken, als ob alles in Ordnung sei. Vieles ist nicht mehr in Ordnung. Es kriselt überall. Das strapaziert Menschen, denen es sowieso nicht gut geht, inzwischen im Übermaß. „Wir sehen nackte, pure Not“, sagt Michael Thiergärtner von der Würzburger Christophorus-Gesellschaft. „Die Leute fragen uns verzweifelt, wie sie an Geld kommen können“, so der Leiter der Kurzzeitübernachtung (KZÜ) und der Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose.

Die Dauerkrise verbunden mit wachsender Armut ohne Aussicht, dass sich die Situation in absehbarer Zeit verbessern könnte, macht nicht nur verzweifelt, sondern auch gereizt. Öfter fallen im Beratungsgespräch böse Bemerkungen. Psychische Krankheiten verschärfen sich. Was dazu führt, dass Männer, die zum Übernachten kommen, weitaus unberechenbarer sind als noch vor zehn Jahren. Und es kommen viele. „Wir hatten gerade 17 Männer in der KZÜ, eine solche Zahl bringt uns an die Kapazitätsgrenze“, sagt Michael Thiergärtner.

Zunehmend klopfen Menschen an, die ihr Geburtsland vor knapp zehn Jahren verlassen haben. Sie durchliefen hier ihr Asylverfahren. Versuchten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Versuchten, eine Wohnung zu bekommen. Und scheiterten. Nun sind sie auf die Angebote der Wohnungsnotfallhilfe angewiesen. Dass dies so kommen würde, hatten die Berater der Christophorus-Gesellschaft prognostiziert. Auch eine andere Prognose traf ein, so Michael Thiergärtner: „Wir rechneten damit, dass sich die Energiekrise nicht 2023, sondern 2024 besonders drastisch auswirken wird.“

Vor Michael Thiergärtner sitzen tagtäglich Menschen, die von der Hand in den Mund leben. Viele haben den größten Teil ihres Lebens in Armut und Einsamkeit verbracht. Sie haben kein soziales Netz. Und keinerlei finanziellen Rückhalt. Jedes kleine Extra an Ausgaben stürzt sie in Verzweiflung.

So war es auch mit einem Klienten, dessen Stromkosten durch die Decke schossen: „Nun soll er einen monatlichen Abschlag von 180 Euro zahlen.“ Das ist für den 55-jährigen Bürgergeldempfänger unmöglich. Michael Thiergärtner versucht gerade, herauszufinden, ob die Berechnung des Strompreises überhaupt stimmen kann. Der Mann selbst wäre nicht imstande, dies abzuklären.

Gedrückt saß dieser Klient vor ihm. Freude im Leben kennt er kaum. Spontan mal in die Stadt zu fahren und ein Café zu besuchen, ist aus finanziellen Gründen für ihn nicht drin. Er schaut, dass er über die Runden kommt. Das klappt eher schlecht als recht. Bei Bekannten hat er Schulden. Außerdem lief eine Mietschuld auf. Letztlich keine große Sache. Aber für jemanden, der nichts hat, ist die Schuld groß genug, um seelisch zu belasten

Viel mehr Bürger als vor zehn Jahren müssen aufgrund der Teuerungen und der vielfältigen Krisensituationen kämpfen. Entmutigen jedoch lassen sie sich nicht. Das Leben bedeutet nun mal ein Auf und Ab. Und es werden schon wieder bessere Zeiten kommen. Das allerdings kann nur zu sich sagen, wer psychische Ressourcen hat. Und Freunde oder Familienmitglieder, die, wenn es hart auf hart kommt, die Kosten für etwas, das man gerade nicht zahlen kann, übernehmen würden. Die Männer, die sich an Michael Thiergärtner wenden, weil sie nicht weiterwissen, haben keinerlei seelische Ressourcen mehr. „Es sind letztlich kranke Menschen“, sagt der Sozialarbeiter. Vor allem suchtkrank sind die meisten.

Der Kern des Problems scheint Geldmangel zu sein. Doch zu diesem Kernproblem gesellen sich weitere Probleme. „Unsere Klienten kämpfen jeden Tag ums Überleben“, betont Michael Thiergärtner. Jedes einzelne Schicksal ist traurig. Wobei es um weit mehr als um Einzelschicksale geht. Den Sozialarbeiter treibt die Frage um, wohin die Gesellschaft als Ganzes steuert: „Inzwischen haben wir eine ziemlich aggressive Lage im Land.“

Viele Bürger erleben, dass längst nicht mehr alles läuft wie geplant. Auch sie sind beunruhigt von ständig neuen Negativnachrichten. Von den sich verschärfenden Krisen. Menschen in sehr prekären Lebenslagen haben das Gefühl, dass sie sich auf überhaupt nichts mehr verlassen können. Dass selbst der letzte Halt verlorengeht. Kleinigkeiten genügen, um vollends aus der Bahn geworfen zu werden. So eine Kleinigkeit kann der Verlust des Handys sein. Dann ist ja nicht nur das Telefon weg. Sondern, so Michael Thiergärtner, in vielen Fällen auch der Zugang zum Online-Banking.

Geld als entscheidendes Manko kann man ausgleichen. In extrem prekären Fällen hat Michael Thiergärtner eine Notkasse, der er ein paar Scheine entnehmen und einem Klienten geben kann. Dem Gefühl der Verzweiflung ist nicht so einfach abzuhelfen. Dafür bräuchte es mehr. Dafür bräuchte es einen grundlegenden Wandel.

Text & Foto: Nadia Fiedler, Christophorus-Gesellschaft

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