Endlich wieder geborgen

“Housing First”-Experten fordern mehr Einsatz im Kampf gegen Obdachlosigkeit

Eine von der Christophorus-Gesellschaft organisierte Fachtagung in Würzburg zeigte Chancen von „Housing First“ auf.

Die Vorurteile sind gravierend. Da heißt es, als ob diese Menschen noch niemals zuvor irgendwo gewohnt hätten: Zieht so jemand ein, ist die Wohnung in Nullkommanix verwüstet. Ist die Küche demoliert. Sind die Wände beschädigt. “Doch das haben wir noch nie erlebt“, sagt Sabine Märkle. Die Sozialarbeiterin engagiert sich im “Housing First”-Projekt namens “Noah” der Würzburger Christophorus-Gesellschaft. Bei einer “Housing First”-Tagung in Würzburg stellten sie und ihre Kollegen “Noah” vor.

„Wer gering verdient, ist bekannt, hat auf dem Wohnungsmarkt so gut wie keine Chancen. Es gibt zu wenig günstigen Wohnraum. Und die wenigen günstigen Wohnungen sind sofort weg. Innerhalb der immer breiteren Schicht jener, die weitgehend chancenlos auf dem Wohnungsmarkt sind, gibt es nochmals Abstufungen“, sagt Nadia Fiedler, Geschäftsführerin der Christophorus Gesellschaft. „Für den sozialen Wohnungsbau wird viel zu wenig getan, um die Probleme in den Griff zu kriegen.“ “Obdachlose sind am stärksten marginalisiert und diskriminiert”, erklärte Kai Hauprich, Geschäftsführer des Bundesverbands “Housing First”, unter dessen Dach inzwischen über 40 Projekte vereinigt sind. Drei befinden sich in Bayern. “Noah” ist eines davon.

“Housing First” bedeutet, dass Wohnen Priorität hat. Alles andere ist zunächst zweitrangig.

„Wohnen vor Hilfe“, dieses Credo gilt auch und gerade dann, haben sich Schwierigkeiten akkumuliert. Erst, wenn ein seit Jahren obdachloser Mensch in eine Wohnung vermittelt wurde, werden seine Probleme sozialarbeiterisch angegangen. Viele Klienten, die in einem “Housing First”-Projekt münden, haben Probleme auf dem Arbeitsmarkt, wurde auf der Fachkonferenz aufgezeigt. Nicht wenige sind suchtkrank. Die meisten haben psychische Probleme.

Die Obdachlosenzahlen sind erschreckend. Bundesweit, so “Noah”-Leiter Jan Bläsing, haben aktuell rund 550.000 Männer, Frauen und Kinder keine eigenen vier Wände. 580 Menschen sind im Moment in Würzburg ordnungsrechtlich untergebracht: “So viele wie nie zuvor.” Die städtische Notunterkunft ist überbelegt. Seit 2016 haben sich die ordnungsrechtlichen Unterbringungen verdoppelt.

In Bayern sind, wie Michaela Seybold vom Bayerischen Sozialministerium berichtete, etwa 51.000 Bürger von Wohnungslosigkeit betroffen. Zwischen 2.100 und 4.200 von ihnen kämen wahrscheinlich für ein „Housing First“-Projekt in Frage. Damit sich ein solches Projekt rentiert, braucht es nach ihren Worten mindestens sechs bis acht Teilnehmer. Vor allem aber brauche es Vermieter, die gewillt sind, mitzumachen.

Dass die Problematik “Wohnungslosigkeit” im Koalitionsvertrag nur mit einem einzigen Satz erwähnt wird, wurde bei der Fachtagung angesichts der enorm hohen Zahlen als “sozialpolitischer Skandal” angeprangert. Es müsste sehr viel mehr Geld investiert werden, hieß es, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, bis 2030 keine unfreiwillige Obdachlosigkeit mehr zu haben. Dass dieses Ziel erreicht wird, daran bestehen massive Zweifel.

Analysen zeigen: Jeder in “Housing First“ investierte Euro lohnt sich. Menschen, die endlich wieder eine eigene Wohnung haben, benötigen zum Beispiel keine öffentlich finanzierte Notunterkunft. Sie landen auch nicht immer wieder aufgrund ihrer schwierigen Lebensumstände in der Klinik. Oder hinter Gittern.

Wohnungslosigkeit, ist dabei zu beachten, hat viele verschiedene Facetten. Es gibt Menschen, die kurzfristig auf der Straße landen. Vielleicht wegen einer Räumungsklage. Sie haben noch genug eigene Ressourcen und können sich wieder fangen. Daneben gibt es chronisch Wohnungslose. Irgendwann begann der Abstieg. Möglicherweise durch den Verlust des Arbeitsplatzes. Und einer Trennung als Konsequenz. Dann ging die Spirale immer weiter nach unten. Zwischen fünf und zehn Prozent aller Wohnungslosen haben seit vielen Jahren keine Bleibe mehr - und auch keine Chance, ihrer Situation aus eigener Kraft zu entrinnen.

Diese vergleichsweise kleine Gruppe nimmt die Notunterkünfte zur Hälfte in Anspruch. Was bedeutet: Schafft man es durch “Housing First”, diesen Menschen wieder zu einer Wohnung zu verhelfen und in dieser Wohnung zu halten, schaufelt man viel Kapazität in Notunterkünften frei. Und spart Kosten.

Wichtig ist, zu verstehen, dass Menschen, die vor langer Zeit wohnungslos wurden und nach Wohnraum verlangen, nicht irgendwie untergebracht werden wollen, betonte die Geschäftsführerin Nadia Fiedler,. Die Betroffenen benötigen adäquaten Wohnraum. Sie brauchen, wie jeder andere, ein Domizil, in dem sie sich wirklich geborgen fühlen. Das zu ihren ureigenen Bedürfnissen passt.

Vielleicht wünscht sich jemand ein WG-Zimmer, weil er nicht alleine daheim sein mag. Dann soll danach gesucht werden. Vielleicht ist jemand sehr ruhebedürftig. Kann keine laute Nachbarschaft ertragen. Auch dies muss berücksichtigt werden. Vor allem dürfen Wohnungen nicht weit abgelegen sein. Gerade bei einer schlechten ÖPNV-Anbindung kann es dadurch sonst neuerlich zu sozialer Isolation kommen.

Wird der Wohnungslose mit irgendeiner Bleibe abgespeist, besteht die Gefahr, dass das Wohnverhältnis nicht lange dauert. Das vierköpfige Team von “Noah” geht feinfühlig auf die Wünsche seiner Klienten ein. Darum wurde nach dem Einzug bisher noch kein einziger Kontakt abgebrochen. Nur ein Klient ist nicht mehr an Bord, weil er in ein anderes Bundesland umzog. Im Moment leben 13 Klientinnen und Klienten in elf durch “Noah” vermittelte Wohnungen.

Angesichts der Dimension des Problems erscheint diese Zahl klein. “Doch hinter jedem einzelnen verbirgt sich ein Schicksal”, so Jan Bläsing. Mehr Menschen könnte geholfen werden, wäre der Wohnungsmarkt nicht dermaßen angespannt. Jede einzelne Wohnung, die für die Klienten akquiriert wird, bedeutet ein Kampf. Zum Glück gibt es Bürger wie den Würzburger Volker Held. Der hatte „Noah“ beim Würzburger Stadtfest kennen gelernt - und nach einer kurzen Bedenkpause entschieden: Er möchte einem „Noah“-Klienten eine Chance geben. Auch er, bekannte Volker Held auf der Fachtagung, hatte anfangs Vorurteile gehabt. Doch die stellten sich allesamt als vollkommen unbegründet heraus.

Text: Nadia Fiedler, Christophorus Gesellschaft
Bild: Stephan Hohnerlein, Christophorus Gesellschaft

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