Ein Leben in schwerster Armut
Kurzzeitübernachtung der Christophorus-Gesellschaft ist nicht nur im Winter gefragt
Im Sommer, so eine weitverbreitete Vermutung, braucht ein Obdachloser keine Einrichtung zum Übernachten. Da ist es doch draußen auch abends warm. Da lässt es sich doch aushalten… Dem ist jedoch keineswegs so, sagt Michael Thiergärtner, der die Kurzzeitübernachtung (KZÜ) der Würzburger Christophorus-Gesellschaft leitet. 2024 seien der Juli und der August die besucherstärksten Monate gewesen: “Heuer hatten wir im Mai und Juni fast so viele Besucher wie im Winter.”
Wer sich obdachlos in Würzburg aufhält, hat für sieben Nächte im Monat ein Anrecht auf ein Bett in der KZÜ.
Wer sich obdachlos in Würzburg aufhält, hat für sieben Nächte im Monat ein Anrecht auf ein Bett in der KZÜ. Früher machten vor allem Landstreicher regelmäßig in der KZÜ Station. Manche kamen über mehrere Jahrzehnte hinweg. „Solche Stammgäste sind selten geworden”, sagt Michael Thiergärtner. Das Publikum sei heterogener denn je. Da ist zum Beispiel der junge Mann, der 2015 als Jugendlicher aus Afghanistan floh. Die Integration scheiterte. Nun lebt er auf der Straße. Oder da ist der ältere Mann, der vor langer Zeit schon seine Wohnung verlor. Nach Dutzenden erfolgslosen Bewerbungen gab er es irgendwann auf, weiter nach einer billigen Bleibe zu suchen.
Irgendwo zu wohnen, irgendwo zu arbeiten und in ein soziales Umfeld eingebettet zu sein: Für die meisten KZÜ-Besucher, sagt Michael Thiergärtner, war das früher mal normal. Auch für Jonas K. (Name geändert). Bei ihm klappte es dann irgendwann nicht mehr, sich mit wechselnden Jobs über Wasser zu halten. Eine vernünftige Wohnung kann er sich seit längerem nicht mehr leisten. In den vergangenen Jahren hauste er, ohne Mietvertrag, in Baden-Württemberg in einem Industriegebiet. Im April verkündete ihm sein Vermieter: “Du musst jetzt raus!”
Im April verkündete ihm sein Vermieter: “Du musst jetzt raus!”
Erst kam Jonas K. bei Freunden unter. Als dies konfliktreich wurde, setzte er sich in den nächsten Zug. Und stieg in Würzburg aus. Dort wusste er zunächst nicht, was er anfangen sollte. “Dass es uns gibt, war ihm nicht bekannt”, erzählt Michael Thiergärtner. Auf der Straße erfuhr Jonas K. von der KZÜ. Er hörte, dass hier jeder ein Bett zugewiesen bekommt. Dass man hier duschen und seine Kleider waschen kann. Dass man, wenn die eigenen Klamotten zerschlissen sind, sogar neue Kleidung bekommt. Auch gibt es immer eine Kleinigkeit zu essen. Und manchmal sogar, was aufgrund großzügiger Spender gar nicht so selten vorkommt, was richtig Leckeres.
Jonas K. sieht man an, dass er bis vor kurzem relativ normal gelebt hat. “Er war zwar ziemlich durcheinander”, erzählt Michael Thiergärtner. Doch noch besitzt der Endvierziger genug Energie, um für einen Neuanfang zu kämpfen. Das ist bei vielen KZÜ-Gästen nicht mehr der Fall. Michael Thiergärtner bemerkt bei einem Großteil der Männer eine außerordentliche Erschöpfung. Das Leben auf der Straße ohne jede Aussicht darauf, dass sich die Lebensverhältnisse bessern könnten, zermürbt. Tötet die Lebensgeister ab. Macht dumpf. Apathisch. Für viele ist das Dasein nur noch mithilfe von Rauschmitteln zu ertragen.
Die Christophorus-Gesellschaft erhofft sich mit ihrem ausdifferenzierten Angebot, dass Menschen, die es aus der Bahn gekippt hat, wieder in ein neues Leben aufzubrechen vermögen. Jonas K. zum Beispiel wurde ans Johann-Weber-Haus vermittelt. In dieser sozialtherapeutischen Einrichtung erhalten Obdachlose und Strafentlassene Unterstützung bei der schrittweisen Rückkehr in ein geregeltes Leben. Geholfen wird bei der Arbeits- und Wohnungssuche sowie dabei, Schulden in den Griff zu bekommen. Auch Jonas K. hat mehr als 20.000 Euro an Schulden aufgehäuft.
Warum es den Klienten immer schlechter geht, ist eine Frage, die Michael Thiergärtner im Moment stark bewegt.
Warum es den Klienten immer schlechter geht, ist eine Frage, die Michael Thiergärtner im Moment stark bewegt. Sie hat unzweifelhaft mit gesellschaftlichen Prozessen zu tun. Ob es das Gesundheitssystem oder den Wohnungsmarkt betrifft: Nirgendwo gibt es Anzeichen, dass sich die seit längerem unbefriedigende Lage bessern würde. Im Gegenteil. Es scheinen nicht mal mehr genug Ressourcen für die Aufrechterhaltung der bestehenden Infrastruktur vorhanden. Dies ängstigt viele Menschen. Bei den Klienten der KZÜ schwindet jegliche Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lebensumstände.
Dringend bräuchte es einen Ausbauplan in Bezug auf den sozialen Wohnungsbau. Dringend bräuchte es eine Entlastung der Behörden. Auch das bringt die Klienten zur Verzweiflung: “Bis der Wohnberechtigungsschein kommt, dauert Monate.” Was nicht an Faulheit der Beschäftigten in den Ämtern liegt. Die, weiß Michael Thiergärtner, arbeiten am Anschlag.
Auf die Betroffenen kann sich das lange Warten fatal auswirken. Sie sind sowieso schon gefrustet vom Leben in chronisch schwerster Armut. Jedes neue Frusterlebnis kann jener Tropfen sein, der das emotionale Fass zum Überlaufen bringt. Dann bricht aufgestaute Wut durch. Und trifft selbst jene, die, wie Michael Thiergärtner und sein Team, alles geben, um zu helfen.
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