Wie wurde jemand, wie er ist?
Christophorus-Gesellschaft rückt beim 25-jährigen Jubiläum Klienten in den Fokus
Wie unterschiedlich Menschen sind. Da ist einer, der nicht so schnell die Nerven verliert. Äußerst belastbar ist der. Kann sich durchbeißen. Von „Resilienz” spricht man heute gern. Dass so jemand Karriere macht, verwundert nicht. Andere scheinen gar nichts auf die Reihe zu kriegen. Sie scheitern. Immer wieder. Das hat Gründe. Welche Gründe hinter “schrägen” Biografien stecken können, zeigt die Christophorus-Gesellschaft am 24. Juli anlässlich ihrer Feier zum 25-jährigen Jubiläum auf.
Warum zum Beispiel sitzt ein Mensch viele Monate, wenn nicht gar mehrere Jahre hinter Gittern? Sicher – die Gründe stehen in seinen Akten. Sind Gerichtsprotokollen zu entnehmen. Doch welche eigentlichen Ursachen liegen hinter diesen scheinbar objektiven Gründen? Was sind die tatsächlichen Probleme? Nadia Fiedler, Geschäftsführerin der Christophorus-Gesellschaft, interviewte in den vergangenen Monaten zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Navina De, Leiterin der Schuldnerberatung in der JVA, mehrere Gefangene. Daneben interviewten die Mitarbeiter*innenn der anderen Einrichtungen der Christophorus-Gesellschaft die Hilfesuchenden. Was sie von den Klienten erfuhr, berührt. Geht unter die Haut.
Was sie von den Klienten erfuhr, berührt. Geht unter die Haut.
Oft ähneln sich die Geschichten. Viele Klienten der Christophorus-Gesellschaft wuchsen bescheiden auf. Nicht wenige wurden in richtiggehend prekären Verhältnissen groß. Sie kennen Armut nur zu gut. Nie war so viel Geld da, dass die Familie hätte kaufen können, was sie wollte. Einige erzählen von völlig desolaten Elternhäusern. Dass ein solcher Mensch später mal nicht von Berufs wegen in einer Bankfiliale sitzt, sagt Nadia Fiedler, versteht sich fast von selbst. Natürlich könnte das vorkommen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass dieser Mensch keine oder eine abgebrochene Ausbildung hat.
Wobei es auch Kindern aus reichen Familien schlechtgehen kann, unterstreicht die Sozialrechtsexpertin. Ein Gefangener zum Beispiel berichtete im Interview, dass er ein behütetes Elternhaus hatte. Dennoch verbüßt er derzeit eine Haftstrafe. Der Mann ist pädophil. Mehrfach hatte er junge Menschen missbraucht.
Hinter Gittern beschäftigt sich dieser Klient intensiv mit dem, was er getan hat. Er weiß: Das war schlecht. “In der Sozialtherapie möchte er alles ehrlich aufarbeiten”, berichtet Nadia Fiedler. Die Taten selbst seien mit Blick auf die Opfer in keiner Weise zu entschuldigen. Doch der Mensch hinter den Taten, der dürfe eben als Mensch nicht verurteilt werden.
Doch der Mensch hinter den Taten, der dürfe eben als Mensch nicht verurteilt werden.
Wie jemand aufwuchs, prägt sein ganzes Leben. Der eine hatte einen liebevollen Papa, mit dem er am Samstag Fußball spielen konnte. Oder eine Mama, mit der sich wunderbar im Garten werkeln ließ. Wie viel hat man von ihr gelernt! Wie hat man sich mit ihr darüber gefreut, was alles in den Beeten wächst! Gerade den Klienten der Würzburger Wärmestube sind solche Erlebnisse oft fremd. Sie erhielten in ihrer Familie keine Zuwendung. Keine Geborgenheit. Wurden nicht ermutigt. Nicht in ihrem Selbstwert gestärkt.
Viele haben chaotische Lebenswege hinter sich. Viele kennen Brüche in ihrer Biografie. Zum Beispiel wechselnde Jobs. Vor allem aber zerbrochene Beziehungen. Viele sehnen sich nach Nähe. Nach Bindung. Und wissen doch nicht genau, wie das geht: Freundschaften anbahnen. Freundschaften schließen. Beziehungen aufbauen. In einem der Interviews berichtet ein Klient genau hiervon. Von seinem Wunsch nach einer Partnerschaft. Davon, dass er dann, wenn sein Wunsch in Erfüllung geht, zu klammern beginnt. Bis es der anderen Person zu eng wird. Und sie ihn verlässt. Wieder steht er alleine da. Wieder mit dem schlimmen, unerträglichen Gefühl des Scheiterns.
Doch es geht ja in unserer Arbeit um unsere Klienten.
Der Gedanke, bei einem 25-jährigen Jubiläum Klienten in den Mittelpunkt zu rücken statt nostalgisch in Erinnerungen zu schwelgen, ist ungewöhnlich. “Doch es geht ja in unserer Arbeit um unsere Klienten”, betont Nadia Fiedler. Und es ist wichtig, dass die Stadtgesellschaft und die Kommunalpolitik verstehen, wer da zum Beispiel in der Wärmestube ein- und ausgeht, wer Unterstützung im Johann-Weber-Haus sucht, welche Menschen hinter den Schulden stecken, wer in die Beratungsstellen für Wohnungslose und Strafentlassene geht, wer mit dem Team von Noah eine Wohnung sucht. Für wen hier Geld aufgewendet wird. Und warum die Hilfen überlebensnotwendig sind.
Dass Unterstützung immer wichtiger wird, zeigt sich eben an der Wärmestube. “Wir haben nicht mehr genug Ehrenamtliche”, bedauert Nadia Fiedler. Aber auch an Geld fehlt es. Aus diesem Grund muss die Wärmestube immer wieder mal für ein paar Stunden oder sogar einen ganzen Tag schließen.
Für diejenigen, die jeden Tag in die Wärmestube gehen, denen die Wärmestube Halt gibt und Heimat ist, in einem ansonsten ziemlich haltlosen Leben, sind die finanziell bedingten Pausen drastisch. Nadia Fiedler würde sich zum Jubiläum wünschen, dass sich wieder mehr Menschen bereitfänden, freiwillig in der Wärmestube Dienst zu tun. Oder für die Wärmestube zu spenden. Aber auch die Kommunalpolitik wäre gefordert, die Einrichtung der Christophorus-Gesellschaft angemessen zu finanzieren. Der Frust, der bei den Klienten über das abgespeckte Angebot ausgelöst wird, birgt, so Nadia Fiedler immense politische Sprengkraft.
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